Die Vampire
Richthofen ihm in die Augen. »Für mich gibt es keine kommenden Jahrhunderte. Ich bin ein toter Mann.«
Poe blickte verwirrt zu Theo.
»Wenn mich nicht alles täuscht, haben Sie sich verwandelt, ohne gestorben zu sein. Haben Sie mir das nicht selbst erzählt?«
Der Baron verzog angewidert das Gesicht. »Davon spreche ich nicht, Herr Dichter. Ich bin wirklich und wahrhaftig tot. Alle Angehörigen des JG1 sind tot und machen lediglich vorübergehenden Gebrauch von ihrem Leichnam. Ich halte es für äußerst unwahrscheinlich, dass wir den Krieg überleben werden.«
Theos Lippen wurden zu einem schmalen Strich. Er stieß Rauch durch die Nase und warf den Zigarettenstummel in den See.
»Nungesser. Du hast sein Blut getrunken. Du denkst seine Gedanken.«
Die winzige Glut der Zigarette zischte.
»Ich kann durchaus selbstständig denken, Kretschmar-Schuldorff. Aber du hast recht. Der Franzose war wie ich. Er wusste, dass er tot war. Für ihn war jeder Abschuss eine Gnadenfrist. Als ich ihn tötete, war er nicht im mindesten erstaunt. Er hatte keinen Zweifel, dass ihn früher oder später der Tod ereilen würde. Das wusste ich in dem Moment, als ich ihm die Gurgel durchbiss und sein Blut trank.«
»Betrachten Sie Ihre Opfer als Kameraden?«, fragte Poe.
»Das Tragische am Krieg ist, dass er unter Gleichen ausgetragen wird. Wir Flieger haben mehr gemein mit denen, die wir bekämpfen, als mit denen, für die wir kämpfen. Ich werde aller Voraussicht nach in der Luft sterben. Mein Lehrer Oswald Boelcke ist durch einen albernen Unfall ums Leben gekommen. Wir alle, die man uns Helden schimpft, wir alle werden sterben. Wir werden brennend vom Himmel stürzen. Nur die Etappenschweine werden überleben.«
Poe dachte an Göring, der die Abschussbilanzen aufstellte, an Ewers, der seine Vorgesetzten um eine Beförderung anging, an ten Brincken, der Messungen durchführte, an Kürten und Haarmann, die die Geschütze ihres Herrn und Meisters pflegten. Und er dachte an Edgar Poe, der sich dazu herabließ, Propaganda zu verfassen.
»Professor ten Brincken behauptet, er könne Sie unbesiegbar machen.«
»Er läuft uns mit Greifzirkel und Stoppuhr hinterher und schwatzt dummes Zeug von Messungen und Wissenschaft. Er ist nie in der Luft gewesen. Er hat nicht die geringste Ahnung. Dort oben gibt es keine Wissenschaft.«
»Sondern?«
»Sie sind der Dichter. Verraten Sie es mir.«
»Ich kann nicht über etwas schreiben, das ich nicht kenne.«
Richthofen nahm die dunkle Brille ab. Trotz der Sonne schrumpften seine Pupillen nicht. Sein Gesicht war wie in Marmor gehauen.
»Dort oben, am Nachthimmel, führen wir Krieg. Ewigen Krieg. Und zwar nicht nur gegen die Briten und Franzosen, sondern gegen die Luft. Am Himmel sind wir unerwünscht. Er tötet Vermessene wie uns. Er packt die Boelckes und die Immelmanns, die Balls und die Nungessers und schleudert sie zur Erde. Der Himmel wird nie unsere Heimat sein.«
Er sprach, ohne aufzublicken.
»Und nach dem Krieg?«
Zum ersten Mal, seit Poe ihn kannte, lachte der Baron. Es war ein kurzes Bellen, wie das Brechen eines Zweiges.
»›Nach dem Krieg?‹ Es gibt kein ›nach dem Krieg‹.«
34
Eine Immelmann-Kehre
Z wischen ihnen herrschte eine unausgesprochene Waffenruhe: Kate von der Front fernzuhalten, stand nicht mehr zur Debatte.
Charles wollte sie in seiner Nähe haben, weil er großen Wert auf ihre Meinung legte. Dank ihrer Verbindung, die immer schwächer wurde, je mehr ihr Blut das seine absorbierte, wusste Kate, dass sie ihm Trost bot. Es betrübte sie, dass er sie nicht ihrer Verdienste wegen in die Pläne des Diogenes-Clubs einweihte, sondern weil sie diesen mutigen alten Mann an andere Frauen erinnerte, die Frauen seiner Jugend: seine verstorbene Gattin Pamela, die anbetungswürdige Geneviève.
Während sie im offenen Wagen nach Maranique gefahren wurden, döste Charles, entkräftet und erschöpft. Sie hatte eine Decke über seine Knie gebreitet und versucht, ihn aufrecht zu halten. Im Schlaf hatte er einen Arm um sie gelegt.
Wer war sie in seinen Träumen? Da sie Frank Harris, die Zeit des Schreckens und dreißig Vampirjahre überdauert hatte, wusste sie, dass sie einen festen Charakter besaß. Doch Charles’ Geisterfrauen waren bedrohlich. Sie lief Gefahr, zu einer der Phantomschwestern zu werden, die ihn heimsuchten. Dazu zählten, neben Pamela und Geneviève, Penelope, Mrs. Harker, Mary Kelly, die alte Königin und Mata Hari. Außer Pamela, die schon vor der
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