Die Vampire
Bücherregale bis hinauf zur hohen Decke säumten die Wände. Eine große Zahl merkwürdiger Objekte, zusammengetragen in allen Weltgegenden, sammelte sich unsortiert in den Winkeln. Geneviève fand öfter eine afrikanische Maske oder chinesische Jadefigur in einer Schachtel oder Schublade und sagte etwas über ihre Qualität oder ihren Wert. Er hatte heimlich eine Bestandsaufnahme gemacht - wenn er Listen erstellte, gefiel ihr das gar nicht - und überlegt, wer wohl am meisten von dem jeweiligen Stück hatte. Die Bibliothek würde an Edwin Winthrop gehen.
Geneviève half ihm vom Rollstuhl auf das Ruhebett in seinem Arbeitszimmer. Er wog jetzt so wenig, dass ihn sogar ein warmblütiges Mädchen hätte wie ein kleines Kind hochnehmen und irgendwo
hinsetzen können. Geneviève ließ ihn so viel wie möglich allein machen. Mit der letzten Kraft seiner schwindenden Muskeln stand er, sich an ihrem Arm festhaltend, aus dem Rollstuhl auf, dann brach er mehr oder weniger auf der Couch zusammen und überließ es ihr, seine Beine zu ordnen und mit einer karierten Decke zu umhüllen.
Sie lächelte lieb. Es war wie ein Stich ins Herz. Dieses Gefühl war noch nicht verschwunden.
Manchmal nannte er sie Pamela, und sie überging es einfach. Seine Frau war nach zwei Jahren Ehe verstorben, vor beinahe achtzig Jahren. Die Hitze machte Rom der Berglandschaft Indiens sehr ähnlich, wo Pam und er gelebt hatten, während er das Große Spiel verfolgte, wie Kipling es nannte, die Schachpartie zwischen den Russen und dem Britischen Empire um die Aufteilung des Subkontinents. Der erste Kalte Krieg. Pam hatte von Anfang an gesagt, dass nichts Gutes daraus erwachsen würde, hatte ihn fortwährend angestachelt, was seine Pflicht betraf, ihn dazu gezwungen, sich zu fragen, wo diese wirklich lag. Geneviève war zwar die letzte und andauerndste seiner Liebesbeziehungen, aber seine kurze Zeit mit Pam, die Freude und das Leid, stand ihm klarer vor Augen.
Schuldgefühle ließen ihn Geneviève nur umso mehr lieben.
Er nahm ihre Hand und drückte sie, mit aller Kraft, die ihm noch geblieben war.
Sie küsste seine Stirn.
Es musste ein grotesker Anblick sein, ein junges Mädchen mit einem alten Mann. Ein Lied seiner Jugendzeit war »A Bird in a Gilded Cage« gewesen. Aber Geneviève war kein Vogel im goldenen Käfig, sie wirkte nur jung, und er war eigentlich auch nicht mehr alt. Alles über hundert war unnatürlich. Ein Alter für Bäume und Schildkröten, aber nicht für Menschen.
»Ich brauche dich, Charles«, hauchte sie.
Es war keine Lüge. Es war ihre Wahrheit, die sich so, wie sie sie äußerte, nicht zurückweisen ließ.
Sie kletterte neben ihn auf die Couch. Wenn sie beieinanderlagen, war er immer noch der Größere. Lag ihr Kopf neben dem seinen, reichten ihre Füße kaum über seine Knie hinaus.
Sie küsste ihn auf die Wange und aufs Kinn, die glatt waren, da sie ihn vor einer Stunde rasiert hatte. Auf dem Kopf hatte er noch ziemlich viele Haare, aber seinen Schnurrbart trug er nicht mehr. Seine Haare hatte er ihr zu verdanken und wahrscheinlich auch sein Sehvermögen und den Großteil seiner Zähne.
Sie lockerte seinen Bademantel am Hals und öffnete den oberen Knopf seiner Pyjamajacke. Sie schnupperte an der Vertiefung seiner Kehle und bewegte die Lippen, tastete nach den alten Wunden.
Er war ruhig, die Krämpfe waren vorbei. In seinem Innersten war er erregt. Sein Blut floss schneller. Auf eine Weise, die ihn als junger Mann verblüfft hätte, genügte das.
»Das ist absurd, Gené«, sagte er leise. »Du bist …«
»Alt genug, um zehnmal deine Urgroßmutter zu sein. Du bist der jugendliche Liebhaber mit der älteren Geliebten. Vergiss das nicht.«
Ihre Fangzähne glitten in die vielbenutzten Furchen in seiner Schulter, ein gutes Stück von der Vene entfernt. Er konnte sich nie entscheiden, ob die kitzelnden Stacheln heiße Nadeln oder spitze Eiszapfen waren.
Er bebte vor Wonne. Ihre Zunge schlängelte über seine Haut. Er spürte, wie ihr Körper sich anspannte, und wusste, dass sein Geschmack in sie hineinströmte.
Früher hätte sie getrunken. Heute nippte sie.
Nein, sie kostete.
Ihm war klar, was sie da tat. Seit Jahren hatte sie sein Blut nicht mehr getrunken. Sie öffnete seine Wunden und legte ihren Mund
daran und nahm nicht Nahrung auf, sondern Nährkraft, die sie aus seinem Herzen bezog und nicht von seinem Körper.
Und sie gab ihm von sich.
Er war ebenso sehr ein Vampir wie sie. Geneviève hielt ihn mit ihrem
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