Die Vampire
scharfem Silber. Kernassys Schädel, Malenkas Augen.
Was stimmte nicht an diesem Bild?
»Nur los«, ermutigte sie Silvestri. »Alles, auch wenn Sie nicht ganz sicher sind …«
»Es ist ein Puzzle«, sagte sie. »Ich versuche, alles zusammenzufügen. Eines der Teile ist falsch, aber ich weiß nicht, welches. Es tut mir leid. Das ist für mich genauso frustrierend wie für Sie. Ich habe das Gefühl, dass etwas nicht stimmt. Irgendein winziges Detail. Etwas, das ich gesehen habe. Aber ich komme nicht darauf. Ich muss es mir weiter durch den Kopf gehen lassen.«
Der Inspektor war nicht enttäuscht. Er schrieb seine Telefonnummer
auf eine Seite seines Notizbuchs, riss sie heraus und hielt sie ihr hin.
»Wenn das Puzzle zusammenpasst, rufen Sie mich an?«
Sie nahm die Nummer.
»Ja. Natürlich.«
Silvestri klappte sein Notizbuch wieder zu. Es war sein Lieblingsrequisit.
»Sie können gehen, Signorina Katharina Reed.«
Das verblüffte sie einigermaßen.
»Sie wollen mich nicht festnehmen? Als Verdächtige?«
Silvestri lachte.
»Nein. Sie haben falsch verstanden. Sie sind erst gestern Nacht in Rom angekommen, mit demselben Flug wie il conte und seine ›Nichte‹. Das wurde durch Alitalia bestätigt. Dies waren nicht die ersten Morde.«
Trotz der römischen Sonne bekam Kate eine Gänsehaut.
»Rom ist kein sicheres Pflaster für vampiri«, fuhr Silvestri fort. »Sie sehen sich gern als Jäger der Menschen, aber hier haben wir einen Menschen, der sich gern als ihr Jäger sieht. Dieser Boia Scarlatto hat andere getötet, Einzelne und Paare. Seit dem Krieg. Alles Älteste.«
Damit gab Silvestri ihr etwas zum Nachdenken.
»Malenka war doch bestimmt eine Neugeborene. Sie wirkte so … modern.«
Silvestri schüttelte den Kopf. »Sie hatte ihre Jahrhunderte.«
Nur Vampirälteste. Warum Kernassy und Malenka töten, nicht aber Kate Reed?
Es gab kein scharf abgegrenztes Alter, ab dem man ein Ältester war. Sie ging davon aus, dass man wohl seine natürliche Lebenserwartung überleben und dann mindestens noch eine Lebensspanne hinter sich bringen musste. Nach zwei Jahrhunderten kam man langsam in die Nähe. Dracula zählte zu den Ältesten,
Lord Ruthven, Geneviève. Kate war sechsundneunzig. Wäre sie warmblütig geblieben, würde sie vielleicht auch noch leben.
Charles, der zehn Jahre älter war, lebte jedenfalls noch.
Hatte das kleine Mädchen den scharlachroten Henker verscheucht? Das klang nicht besonders wahrscheinlich.
Silvestri wies seine Männer an, Kernassys Umhang auf den Boden zu legen, und besah sich die Leiche. Die Presse fotografierte die Szene mit dem berühmten Brunnen pittoresk im Hintergrund verschwommen. Der Inspektor setzte eine ernste Miene auf. Wie Malenka bot er den Fotografen verschiedene Blickwinkel. Er experimentierte mit Gesichtsausdrücken: nachdenklich, entschlossen, resolut.
Die Reporter spitzten die Ohren, als Silvestri verkündete: »I corpi presentano tracce di violenza supernaturale«, und eine Stellungnahme herunterrasselte, die sie alle eifrig mitschrieben.
Hundert Jahre altes Schulmädchenitalienisch rumpelte in ihrem Kopf herum, verdorben durch derbes Sizilianisch, das sie während des Kriegs aufgeschnappt hatte. Sie musste nicht jedes Wort verstehen, um zu begreifen, in welcher Richtung der Polizist sich erging. Die Rede am Tatort war überall auf der Welt dieselbe: Man werde alles Menschenmögliche tun und sämtliche Spuren verfolgen. Für die nahe, aber nicht weiter bestimmte Zukunft wurde eine Festnahme in Aussicht gestellt. Kate hatte dieses Lied zum ersten Mal am Tatort eines der Morde von Jack the Ripper gehört, wo es der Künstler zum Besten gegeben hatte, der es berühmt gemacht hatte, Inspektor Lestrade von Scotland Yard.
Jack war natürlich nie gefasst worden.
Kate fragte sich, ob sie Marcello sagen sollte, dass die Polizei sie als unschuldig ansah. Er war im Moment der Entdeckung erschrocken genug gewesen. Der Schock und das Misstrauen waren ihm trotz seiner Mich-kratzt-nichts-an -Sonnenbrille anzusehen gewesen. Ihr war klar, dass sich dieser Eindruck nur schwer
revidieren ließe. Für ihn blieb sie vielleicht immer ein blutdurstiges Monstrum.
Mist aber auch. Irgendetwas war immer.
Sie schalt sich dafür. Zwei Leben waren zerstört worden, und sie machte sich Sorgen, wie sie einen warmblütigen Mann beeindrucken sollte, der sie jetzt sicher so attraktiv fand, wie einen toten Fisch um die Ohren gehauen zu bekommen.
Gabor Kernassy war ihr nicht unsympathisch
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