Die Vampire
Blut am Leben. Mit der rauen, scharfen Spitze ihrer Zunge kratzte sie die Innenseite ihrer Wange auf und ließ Tröpfchen in seine Wunden fließen. Es lag in ihrer Macht, ihn dazu zu zwingen, ihr Blut zu trinken, ihn in ihren Fangsohn zu verwandeln, ihn zu ihrem Vampirnachwuchs zu machen. Aber nicht in ihrem Charakter.
Es gab drei Vampirfrauen in seinem Leben, alle von unterschiedlichem Geblüt. Geneviève konnte ebenso wenig wie Kate Reed einfach nur von ihren Geliebten nehmen. Sie musste etwas von sich zurücklassen, im Geist und im Körper. Jeder, den sie berührte, wurde von ihr verändert, beeinflusst.
Die andere hat ihn in den Hals gebissen und sich sein Blut geholt, mit ebenso viel Verachtung wie Begehren. Wenn er überhaupt an sie dachte, dann mit Mitleid.
Wie viele Jahre hatte er Geneviève zu verdanken?
Ihr Blut hatte ihn jung gehalten, ohne dass er es gemerkt hatte. Weil er es nicht hatte merken wollen. Nun wusste er, dass sie ihn am Leben erhielt. Die Männer in seiner Familie waren nicht alle langlebig. Ein Onkel hatte die neunzig erreicht, und ein Neffe lebte mit einundachtzig immer noch. Aber sein Vater war am Bombayfieber gestorben, mit achtundvierzig, und seine beiden Großväter waren bei seiner Geburt schon tot. Für ihn war hundertfünf kein natürliches Alter.
Während ihrer Verbundenheit schluchzte Geneviève leise; ihr Kummer durchströmte sein Herz.
»Nicht doch, Liebste«, sagte er, um sie zu trösten.
Er wollte die Hände heben und ihr Gesicht berühren, ihr die Tränen abwischen, aber er war ganz benommen. Sein Verstand
war hellwach, aber die Glieder waren ihm schwer und reagierten nicht.
»Es spielt keine Rolle«, sagte sie.
Jetzt wäre ein guter Moment, dachte er. Ihre Wärme war in ihm, er würde sie mitnehmen. Er stellte sich vor, wie er in seinem verbrauchten Körper immer kleiner wurde, wie Spiralen aus Licht und Dunkelheit um ihn herum kreisten. Sein Gesicht brachte ein Lächeln zustande.
Geneviève riss sich unvermittelt von seinem Hals los. Er spürte die Luft auf seiner nassen Haut.
»Nein«, sagte sie mit plötzlicher Entschiedenheit, die an Egoismus grenzte.
Durch ihr Blut hatte er sie berührt. Sie wusste, was er dachte, was er empfand.
»Nein«, sagte sie erneut, sanft, flehend. »Noch nicht. Bitte.«
Seine Arme funktionierten. Sie schlossen sich um sie. Er war noch bereit zu leben.
»Dieser Mann hat gelogen, Charles«, sagte sie.
Das wusste er.
»Der macht keine Berichte. Dazu ist er nicht der Typ. Er handelt, wenn die Berichte vorliegen.«
»Braves Mädchen«, sagte er.
Als er wegdämmerte, eingelullt durch den Schlag seines Herzens, hörte er das Telefon klingeln.
»Geh … besser ran«, hauchte er.
3
Giallo/Polizia
I nspektor Silvestri gab seinen uniformierten Untergebenen in hohem, melodischem Italienisch Anweisungen zu ihrem Vorgehen auf der Piazza di Trevi. Wenn er mit Kate Englisch sprach, hatte er eine völlig andere Stimme. Eine tiefere. Sie klang flach, wie bei einem schlechten Schauspieler.
»Sie haben den Attentäter gesehen?«, fragte er. »Il boia scarlatto?«
Il boia scarlatto. Der scharlachrote Henker.
Vor ihrem geistigen Auge sah sie ihn noch immer. Ein Gesicht, das auf der Wasseroberfläche tanzte.
»Nur sein Spiegelbild«, gab sie zu.
Silvestri machte eine Notiz. Trotz des römischen Sommers trug er die inoffizielle Uniform eines europäischen Kriminalbeamten, einen Maigret-Regenmantel in gebrochenem Weiß. Er war mittleren Alters und stämmig.
»Er hatte ein Spiegelbild?«
»Dieser Mann war kein Vampir, Inspektor.«
Zwei Polizisten hoben Kernassys Umhang aus dem Wasser wie eine Hängematte, mit seinen zerbrechlichen Überresten darin. Assistenten aus der Gerichtsmedizin fischten mit Schmetterlingsnetzen nach Brocken, die wohl Malenka hinterlassen hatte.
Das Kleid von Morlacchi war spurlos verschwunden, was Silvestri erboste. Die Verlobte oder Geliebte irgendeines der Polizisten fragte besser nicht nach der Herkunft ihres Geburtstagsgeschenks. Kate hoffte, dass es vor dem Überreichen noch gereinigt und geflickt wurde.
Gnadenlose Sonne ergoss sich auf die Piazza. Dass die Hitze so schlimm würde, hatte Kate nicht gedacht. Sie transpirierte
nicht - eine merkwürdige Eigenschaft ihrer veränderten Körperchemie -, aber damit war jedes Ansteigen der Temperatur über die englische Norm nur umso unangenehmer. Sie hatte sich zu einem Geschöpf der Nacht entwickelt.
Horden von Raritätenjägern wurden mit Absperrseilen
Weitere Kostenlose Bücher