Die Vampire
Yard ist involviert. Der hiesige Vorfall erfordert weitere Ermittlungen.«
Der hiesige Vorfall? Tom konnte nichts mit dieser Formulierung anfangen. Was meinten sie damit?
Die weiße Geistererscheinung flog auf ihn zu, ganz Zähne und Klauen und ausgefranste Spitze. Sie kreischte und schlug die Krallen nach seinen Augen, seiner Kehle.
»Mörder!«, schrie Asa. »Königsmörder!«
Penelope hielt Asa sanft fest und zwang sie dazu, die Hände zurückzuziehen. Das Gesicht der Prinzessin war ganz nahe vor Tom, die Augen groß und irre.
»Du hast Dracula getötet! Du bist des Todes!«
Einzig Asa zeigte Gefühl. Penelope und die Polizisten sahen sich das Ganze an, als wäre es ein beiläufiges Gespräch über irgendeine Banalität.
Penelope beruhigte Asa, flüsterte ihr ins Ohr, ordnete ihre verfilzten Haare.
»Sie hat Schweres erlitten«, erklärte Penelope.
»Dessen sind wir uns bewusst«, sagte Silvestri.
Tom wurde zum Eingang gezerrt. Draußen wartete unter der glühenden Sonne ein Polizeiwagen. Seine Fahrten mit dem Ferrari waren vorbei.
»Wenn ich noch einen Moment mit ihm allein sein dürfte?« Penelope übergab Asa einem Diener.
Silvestri dachte darüber nach, nickte.
Die Polizisten ließen Toms Arme los. Er war so geschwächt, dass er kaum stehen konnte, geschweige denn ins Tageslicht fliehen. Penelope stand vor ihm. Sie sagte leise etwas.
»Tom, Tom, ich kann dir gar nicht sagen, wie leid es mir tut, dass es so weit kommen musste. Du bist kein so schlechter Mensch, wie behauptet wird, und ganz bestimmt nicht schlimmer als sonst jemand hier. Wenn du mich fragst, ich glaube nicht, dass du Dracula getötet hast. Damit hättest du ja nichts zu gewinnen gehabt, und du tötest erst, wenn es deiner Meinung nach nicht mehr anders geht. Aber wenn diese Geschichte in Griechenland herauskommt, dann bist du einfach genau der Richtige für diese Rolle, so perfekt, dass du sie wohl oder übel wirst spielen müssen, ganz egal was du sagst oder tust. Draculas Tod hat hohe Wellen geschlagen, und irgendjemand muss doch die Rolle des Bösewichts übernehmen. Tröste dich mit der Tatsache, dass die Welt deinen Namen in Erinnerung behalten wird und dass ich immer mit Zärtlichkeit an dich denken werde. Nicht an Tom, den berühmten Vampirmörder, auch nicht an den Tom, der zu sein
du uns gerne glauben machen wolltest - der umgängliche, oberflächliche, ehrliche Amerikaner -, sondern an den kalten, scharfsinnigen Mann, der in dir steckt. Ich weiß, dass du dein wahres Wesen nicht sonderlich schätzt, aber ich mag es sehr. Hätten die Umstände nicht dagegen gesprochen, es wäre mir eine Ehre gewesen, dich zu meinem Fangsohn zu machen.«
Sie küsste ihn auf die Lippen. Ohne Zähne, ohne Zunge. Als sie sich von ihm löste, glitzerte ein Edelstein in ihrem Auge. Sie wischte ihn weg.
Sein Herz war aus Eis. Die Falle hatte zugeschnappt.
»Sie können ihn jetzt mitnehmen«, erklärte Penelope.
Die Polizisten führten ihn aus dem Palazzo. Die Sommersonne fiel auf sein Gesicht. Er konnte kaum etwas sehen, und seine Haut brannte. Er begriff, wie viel Blut er verloren hatte.
32
Orbis non sufficit
E twas anderes hatte Geneviève sich von ihrem Glück auch gar nicht erwartet. Fünfhundert Jahre lang war Graf Dracula für sie der schlimmste Mensch der Welt gewesen. Er hatte alles Böse verkörpert, alles, was sie verabscheute, was ihr fremd war. Nun, da Vlad Tepes - oder wer auch immer - endlich tot war, stellte sich heraus, dass es in Europa jemanden gab, der noch älter, noch gefährlicher, noch schlimmer als der Vampirkönig war.
Mater lachrymarum, die Mutter der Tränen. Irgendwo in den Kartons mit Charles’ Büchern lag die Schrift eines modernen Alchemisten - Fulcanelli? Varelli? -, die auch einen Abschnitt über die drei Mütter enthielt. Geneviève dachte kurz daran, die Kartons
durchzugehen, entschied sich jedoch dagegen. Diesmal bestand keine echte Notwendigkeit herauszufinden, wer sich hinter dem Vorhang verbarg. Charles war tot. Dracula war tot. Sie war keine Detektivin und keine Rächerin. Niemand hatte Kate in Verdacht. Wer den Prinzen getötet hatte, war Geneviève egal. Eigentlich war es allen egal.
Sie hatte nicht vor, noch viel länger in der Stadt zu bleiben. Wenn überhaupt, dann musste man sich Sorgen wegen des scharlachroten Henkers machen.
Sie saß im Dunkeln in der Wohnung, zwischen Truhen und Kisten. Es war bestürzend einfach gewesen, Charles’ ganzes Leben aufzuräumen. Er hatte nur Dinge
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