Die Vampire
zurückgelassen. Er selbst war fort.
Endgültig tot sein. Wie das wohl sein würde?
Selbstmord war ihre Sache nicht. Aber jedes weitere Jahr war ein zusätzliches Gewicht auf ihrem Herzen. Wie viele Jahrhunderte gab es wohl noch für sie? Sie hatte Das letzte Ufer gelesen. Es war eine beängstigend realistische Vorstellung, dass es vielleicht für nichts und niemanden mehr Jahrhunderte gab. Am Bodennullpunkt würden Warmblütige und nosferatu zugleich verdampft werden. Nicht einmal Dracula hatte je an die Wasserstoffbombe gedacht. Ihr schauderte bei der Vorstellung, was solche Waffen im Arsenal der Kriegsherren ihrer warmblütigen Tage bedeutet hätten.
Kate war unterwegs, versuchte ihren italienischen Liebhaber aufzustöbern. Sie war immer noch mit ihrer eigenartigen Suche nach Antworten beschäftigt, aber sie würde lernen. Geneviève war in ihrem Alter genauso gewesen. Es brauchte ein ganzes warmblütiges Leben, das Wunderbare zu akzeptieren. Dann fing man an, es infrage zu stellen, wollte wissen, was das alles sollte, worum es ging. Wer hatte Antworten für Kate? Eine Wahrsagerin, ein Priester, ein kleines Mädchen, ein warmblütiger Mann, ein aufgedunsenes Genie?
Kate zuliebe würde sie noch ein wenig bleiben. Bis die kleineren Rätsel gelöst waren. Es war das mindeste, was sie tun konnte.
Der Geschmack von Charles in ihrem Mund ließ nach. Diese dünner werdende Spur war das Letzte, was von ihm geblieben war. In den vergangenen Jahren hatte seine Stimme in ihrem Geist geflüstert. Jetzt war da nur noch Schweigen.
Geneviève trat auf den Balkon. Charles’ Rollstuhl war fort. Sie ging zu der Stelle, wo er oft gestanden hatte, und sah auf die Straße hinunter, nahm die Aussicht in sich auf, die Charles am liebsten gehabt hatte.
Ein hochgewachsener, schlanker Mann in Schwarz stand auf der anderen Straßenseite, unter einer Laterne. Er sah mit klaren blauen Augen zu ihr hinauf. Es war Vater Merrin.
Der Priester überquerte die Straße, und Geneviève ging zurück in die Wohnung, um ihn hereinzulassen. Ein behelfsmäßiges Schloss an der Tür ersetzte dasjenige, das Brastows Schläger aufgebrochen hatten.
»Vielen Dank, dass Sie gekommen sind, Vater«, sagte sie. »Ich bin mir bewusst, dass Sie sich besser von mir fernhalten sollten. Ich weiß Ihren Mut zu schätzen.«
Merrin nahm seinen flachen schwarzen Hut ab. Die Wunde auf seiner Stirn war sauber verarztet.
»Nicht von Ihnen. Von Ihrer Freundin, Miss Reed.«
Geneviève bot dem Priester Tee an. Es gab ein Päckchen Lipton in der Küche. Edwin Winthrop hatte Charles jeden Monat ein Lebensmittelpaket geschickt: Konfitüre von Fort & Mason, Schokolade von Cadbury, die selbst gemachte Marmelade einer Sekretärin.
Sie machte Tee, während der Priester schweigend die eingepackten Sachen und den Schaden betrachtete, den Brastows Attentäter verursacht hatten.
»Das hier hat nichts mit der Mutter der Tränen zu tun«, sagte er.
»Nein. Jedenfalls nicht, dass ich wüsste.«
»Sie haben jemanden verloren. Bitte gestatten Sie mir, Ihnen mein Beileid auszudrücken.«
Er sagte nichts über Gott oder den Himmel, wofür sie dankbar war. Sie wollte diesem Mann gern von Charles erzählen.
Ihrer Erfahrung nach, sowohl im warmblütigen Leben als auch in all den Jahren danach, waren Priester von Merrins Format so selten wie weiße Raben. Sie hatte nichts gegen Jesus aus Galiläa. Nur hatte ein großer Verbrecher - Simon Petrus, der Leugner, oder der Kaiser Konstantin - das Wirken Christi verzerrt. Aus einem Glauben für Kinder und Sklaven war eine weltliche Macht geworden, so reich und verdorben wie alle anderen auch.
Es mochte durchaus sein, dass Gott eine Botschaft für die Menschheit hatte, nur konnte man die in einer Kirche gewiss am schlechtesten hören. Zweimal war Geneviève von der Inquisition der peinlichen Befragung unterzogen worden. Die Gesichter der heiligen Männer waren vor Lust verzerrt gewesen, als sie mit ihren Kneifzangen Genevièves Körper bearbeitet hatten. Schlimmer waren nur die Überzeugungstäter, die tatsächlich im Namen der göttlichen Liebe mordeten und brandschatzten. Später war sie in Neuengland von puritanischen Hexenjägern verfolgt und in Mekka von Mullahs gesteinigt worden. Im vergangenen Jahrhundert hatte sie Zuflucht in einem tibetischen Lamakloster gesucht und festgestellt, dass es dort von kleinlichen Intrigen und spirituellen Entstellungen geradezu wimmelte.
Vater Merrin war besser. Sie hatte nur wenige wahrhaft
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