Die Vampire
gute Menschen kennengelernt. Der Priester war nicht schwach, nicht fügsam; zu den Zeiten, als sie in die Kirche geflohen war, hätte sie nicht gegen ihn kämpfen wollen. Dass er im Vatikan verbleiben
konnte, bewies, dass mit Charles Beauregard nicht alles Gute aus der Welt verschwunden war.
Zum ersten Mal seit Jahrhunderten verspürte Geneviève Sandrine de l’Isle Dieudonné ein Bedürfnis, das ihr als Kind beigebracht worden war. Sie stellte sich vor, dass Gott im Zimmer war, mit Merrins Gesicht.
»Vater, nehmen Sie mir die Beichte ab?«
Der Priester willigte ein und stellte seine Tasse ab. Sie waren beide unsicher. Sollten sie knien? Sie sank auf den nackten Bodenbrettern auf die Knie. Merrin nahm ein Kissen und kniete sich neben sie.
»Père, pardonnez moi«, begann sie in ihrer Muttersprache. Ihr Akzent wäre in modernem Französisch nicht zu hören gewesen.
Sie zögerte.
»Machen Sie ruhig«, sagte Merrin. »Ich verstehe es.«
»Vater, vergib mir, denn ich habe gesündigt …«
Mit den Worten ging ihr das Herz über, und alles strömte hinaus.
Nachdem Merrin gegangen war, fühlte sie sich anders. Sie hatte ihm viel aus ihrem Leben erzählt, das niemand, der noch lebte, je gewusst hatte. Vor allem aber hatte sie ihm von Dracula erzählt. Sie hatte ihm die wahre Identität von Jack the Ripper enthüllt. Hatte ihre Liebe eingestanden und ihr Versagen. Hatte geweint. Und durch das Reden mit einem Priester hatte sie gebetet.
Sie hatte weder mit der Kirche ihren Frieden gemacht, noch war sie nun davon überzeugt, dass es das Übernatürliche gab. Der kalte Scharfblick von Dr. Pretorius und die warme Weisheit von Vater Merrin machten Eindruck auf sie, dennoch hatte sie nicht vor, die Angewohnheit vieler Lebenszeiten zu ändern.
Es war nur so, dass es jetzt gerade, in diesem Moment, half.
Ihr Herz schlug schneller. Dieses Organ war in vielen Vampiren
verstummt, eine überreife Pflaume, die darauf wartete, durchbohrt zu werden. Ihres hingegen arbeitete noch. Und damit kamen auch Gefühle.
Charles war noch immer bei, in ihr. Seine Stimme ein Flüstern. Sein Geschmack ein Kribbeln. Sie hatte das Gefühl für ihn gar nicht für immer verloren, es war ihr nur vorübergehend abhandengekommen.
Jetzt weinte sie nicht mehr.
Sie sah auf, jäh aus ihren Träumen gerissen. Ein neuer Besucher stand in der Tür; in einem schwarzen Smoking mit Fliege, posierte mit seiner Walther, die Schmachtlocke wie ein Finger, der sie heranwinkte, das Lächeln kalkuliert ironisch, die Fänge entblößt.
Bond ließ die Walther in ihr Holster gleiten.
»Begleiten Sie mich, Gené«, sagte er. »Um ein letztes Monstrum müssen wir uns noch kümmern.«
Seine Zuversicht war unwiderstehlich. Für ihn war solcher Kummer albern. Er hatte seine Arbeit zu erledigen, und dabei ging es um Leben und Tod. Er konnte sich keine Verletztheiten leisten. Es war gefährlich, sich mit so jemandem einzulassen.
Aber sie hatte nichts Besseres zu tun.
»Ich kann ihn finden«, sagte er. »Den scharlachroten Henker.«
Sie stand auf und ging mit.
33
Lachrymae
D ie alte Villa im Herzen der Stadt war abgesunken. Erdgeschossfenster lugten mit ihren oberen Rändern aus dem Boden. Es schien sich um Buntglas zu handeln: Licht von innen machte daraus Bausteine aus leuchtendem Rot, Türkis und Bernsteingelb.
Kate überprüfte noch einmal die Anschrift. Marcellos Redakteur hatte ihr eine lebendige Beschreibung gegeben: das Haus mit den weinenden Fenstern. Sie sah nach oben. Gleich unter dem Dach waren eine Reihe augenförmiger Giebelfenster so schief gestellt, dass sie Traurigkeit vermittelten. An den Stellen, wo die Tränendrüsen gewesen wären, troff Wasser aus Speirohren. Das Backsteinmauerwerk darunter war vom jahrelangen Leid grün verfärbt.
Das Haus war beeindruckend. Sie fragte sich, warum darüber nichts in den Reiseführern stand.
Das Licht hinter den Augen wechselte von Rot zu Grün.
Sie ging über die leere Piazza.
Sie hatte es schon aufgeben wollen mit Marcello, dann aber doch treu und brav immer wieder in seiner Wohnung angerufen, in seinen Stammlokalen und bei den Zeitungen, von denen sie wusste, dass er für sie arbeitete. Schließlich sagte ihr ein Redakteur, dass Marcello eine Nachricht für sie hinterlassen hätte. Er halte sich an einer bestimmten Adresse in der Stadt auf und warte dort auf sie.
Obwohl sie noch immer nicht allzu viel über ihn wusste, glaubte sie nicht, dass es sich hierbei um ein Haus seiner Familie
Weitere Kostenlose Bücher