Die Vampire
Lily hatte einen Anfall erlitten, und nur das Weiße ihrer Augen war zu sehen.
»Beinah hättse ihrne Zunge verschluckt, die ahme Kleine«, sagte Cathy. »Da hab ich ihr’n Daumen reingesteckt.«
»Was fehlt Lily denn?«, fragte Rebecca.
Geneviève legte dem Kind die Hand auf und spürte, dass es zitterte. Die Knochen regten sich unter der Haut, als wollte sein Gerippe eine neue Form annehmen, seinen Leib entstellen.
»Ich weiß nicht recht«, gestand Geneviève. »Sie versucht, ihre Gestalt zu wandeln, ist darin aber nicht allzu geschickt.«
»Ich würde auch gern die Gestalt wandeln, Miss Dee. Dann wäre ich ein Vogel oder eine große Katze …«
Geneviève sah Rebecca an und ließ die Neugeborene einen Blick auf Lily werfen. Rebecca verstand.
»Vielleicht sollte ich doch lieber warten, bis ich älter bin.«
»Ein kluger Gedanke, Rebecca.«
Ein Murgatroyd aus dem West End hatte sich einen Spaß daraus gemacht, Lily zu verwandeln. Geneviève beschloss, sich auf die Suche nach dem Neugeborenen zu begeben und ihm einzuschärfen, dass er die Verantwortung für sein alleingelassenes Fangkind zu tragen habe. Wenn er nicht gehorchen wollte, musste sie ihn anderweitig überzeugen, nie wieder Verschwendung zu betreiben mit seinem dunklen Kuss. Vorsicht, dachte sie bei sich. Derlei Gedanken hätten dem Alten Testament entstammen können.
Um Lilys Arm war es immer noch sehr schlecht bestellt. Er war zu einer vollkommenen Fledermausschwinge herangewachsen, welk und tot. Die Membrane spannte sich zwischen knöchernen Speichen. Eine winzige, nutzlose Hand spross aus einem Rippenknoten.
»Sie wird niemals fliegen können«, sagte Geneviève.
»Was sollen wir tun?«, fragte Rebecca.
»Ich bringe sie in die Hall. Vielleicht kann Dr. Seward ihr helfen.«
»Iss wohl nich mehr viel Hoffnung, hä?«
»Hoffnung gibt es immer, Cathy. Einerlei, wie sehr man leidet. Du solltest den Doktor ebenfalls aufsuchen. Das habe ich dir schon einmal gesagt.«
Cathy verzog das Gesicht. Sie fürchtete Ärzte und Spitäler, mehr noch als Polizisten und Gefängnisse.
»Sapperment«, fluchte jemand. »Was, in drei Teufels Namen, ist denn das?«
Geneviève wandte sich um. Die Menge verschwand im Nebel. Sie blieb mit Cathy, Lily und Rebecca allein. Etwas kam näher, aus dem trüben Dunst hervor.
Endlich würde sie jenem Ding gegenübertreten, das ihr all die Zeit gefolgt war. Sie stand auf und blickte um sich.
Der Brückenbogen war an die zwanzig Fuß hoch; ein schwer beladener Wagen passte mit Leichtigkeit hindurch. Das Ding kam denselben Weg, den auch sie genommen hatte, von Aldgate herunter. Zunächst hörte sie es nur, wie den langsamen Schlag einer Trommel. Das Ding sprang wie ein Gummiball, jedoch mit einer unnatürlichen Langsamkeit, als sei der Nebel eine Wand aus Wasser. Seine Umrisse wurden sichtbar. Es war groß und trug eine Mütze mit einer Quaste. Es war mit einem langen gelben Gewand angetan, dessen riesige Ärmel von seinen ausgestreckten Armen baumelten. Vor langer Zeit war es ein Chinese gewesen. Und es trug immer noch Pantoffeln an seinen kleinen Füßen.
Rebecca starrte auf das Vampirding.
»Das«, sagte Geneviève, »ist ein Ältester.«
Es hüpfte weiter vorwärts, als trüge es Sprungfedern unter den Sohlen. Geneviève erblickte ein Gesicht wie von einer ägyptischen Mumie mit hauerähnlichen Fangzähnen und langem Schnurrbart. Der Chinese landete einige Yards entfernt und ließ die Arme sinken. Seine messerbewehrten Hände klapperten wie Scheren. Er war der älteste Vampir, den Geneviève je zu Gesicht bekommen hatte; er musste seine Runzeln im Laufe unzähliger Jahrhunderte erworben haben.
»Was wollt Ihr von mir?«, fragte sie zunächst auf Mandarin, ehe sie ihre Worte auf Kantonesisch wiederholte. Zwar war sie gute zwölf Jahre lang in China umhergereist, aber seither waren eineinhalb
Jahrhunderte vergangen. Sie hatte die meisten ihrer Sprachen verlernt.
»Cathy«, sagte sie, »bring Rebecca und Lily zur Hall. Hast du verstanden?«
»Ja, Ma’m«, sagte die Neugeborene. Sie war vor Schreck wie gelähmt.
»Jetzt gleich, wenn’s beliebt.«
Cathy stand auf, drückte Lily an ihre Schulter und nahm Rebecca bei der Hand. Das Dreigespann trabte unter dem Bogen hindurch, lief um den Bahnhof Fenchurch Street herum und wieder hinauf nach Aldgate und Spitalfields.
Geneviève blickte den alten Vampir an. Sie verließ sich auf das Englische. Irgendwann kam der Zeitpunkt, da die Ältesten sich nicht mehr der
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