Die Vampire
Sprache zu bedienen brauchten, sondern einfach die Gedanken ihres Gegenübers lasen.
»Nun … jetzt sind wir allein.«
Es machte einen Satz und landete unmittelbar vor ihren Füßen. Es kehrte ihr das Gesicht zu, legte die Arme auf ihre Schultern. Muskeln wanden sich wie Würmer unter der dünnen, ledrigen Haut. Obgleich es die Augen geschlossen hielt, konnte es sehen.
Sie ballte die Hand zur Faust und versetzte ihm einen Schlag in die Herzgegend. Der Hieb hätte ihm eigentlich die Rippen zertrümmern müssen; stattdessen hatte sie ein Gefühl, als habe sie gegen einen gigantischen Granitdämon geschlagen. In China gab es sonderbare Blutsverwandtschaften. Sie verbiss sich den Schmerz, wand sich aus der Umklammerung des Vampirs, hob ein Bein, rammte ihren Absatz in seinen stahlharten Bauch, trat zu und stieß sich fort. Die Hände wie Sprungfedern von sich gestreckt, landete sie auf dem Pflaster jenseits der Brücke. Im Lichtkegel einer Straßenlaterne kauerte sie nieder, als könne der ihr Schutz bieten. Dann sprang sie auf und wandte sich um. Der chinesische
Vampir war verschwunden. Entweder hatte er ihr eigentlich keinen Schaden tun wollen, oder er spielte nur mit seiner Beute. Sie wusste, was sie für wahrscheinlicher zu halten hatte.
19
Der Poseur
L ord Ruthven stand auf einem Podest. Eine Hand lag, zur Faust geballt, streng an seine von Rüschen überbordende Hemdbrust gepresst, während die andere auf einem imposanten Bücherstapel ruhte. Godalming bemerkte, dass der Carlyle des Premierministers noch nicht bis zum letzten Bogen aufgeschnitten war. Ruthven trug einen nachtschwarzen, an Kragen und Taschen mit Schnurbesatz versehenen Gehrock. Ein Zylinder mit geschwungener Krempe thronte auf seinem Kopf; seine Miene war nachdenklich. Das Porträt würde »Der Erhabene« heißen oder einen ähnlich Ehrfurcht heischenden Titel tragen. Mylord Ruthven, der Vampir-Staatsmann.
Ein jedes Mal, wenn Godalming einem Maler Modell stand, überkam ihn unversehens das dringende Bedürfnis, sich zu kratzen, zu blinzeln oder zu zucken. Ruthven hingegen besaß die seltene Gabe, einen ganzen Nachmittag lang reglos dazustehen, geduldig wie eine Eidechse, die auf einem Stein in der Sonne darauf wartet, dass ein fetter Happen sich in Reichweite ihrer hervorschnellenden Zunge begebe.
»Welch ein Jammer, dass uns das Wunder der Fotografie versagt bleibt«, erklärte er, scheinbar ohne die Lippen zu bewegen. Godalming hatte einige Versuche gesehen, das Abbild eines Vampirs auf fotografische Platten zu bannen. Die Resultate gerieten
recht verschwommen, und das Objekt erschien, wenn überhaupt, als verwischte Silhouette mit leichenblassen Zügen. Die Spiegel betreffenden Gesetze der Physik standen in gewisser Weise auch dem fotografischen Prozess entgegen.
»Aber nur ein Maler vermag den inneren Menschen einzufangen«, sagte Ruthven. »Der menschliche Genius wird mechanischchemischen Gaunereien ewig überlegen sein.«
Bei dem zu Gebote stehenden Künstler handelte es sich um Basil Hallward, den Porträtmaler der vornehmen Gesellschaft. Mit geschickter Hand warf er eine Reihe von Skizzen aufs Papier, Vorstudien für das lebensgroße Bildnis. Wenngleich eher Modeheld denn begnadeter Künstler, hatte doch auch er seine Sternstunden. Selbst Whistler rang sich bisweilen ein paar freundliche Worte zu seinem Frühwerk ab.
»Godalming, wie viel wissen Sie über diese Silver-Knife-Sache?«, fragte Ruthven mit einem Mal.
»Die Whitechapel-Morde? Drei bislang, wenn mich nicht alles täuscht.«
»Gut, immer auf der Höhe. Exzellent, mein Junge.«
»Ich werfe lediglich hin und wieder einen Blick in die Zeitung.«
Hallward entließ den Premierminister, und Ruthven sprang - begierig, die Skizzen zu betrachten, welche der Maler an seine Brust drückte - von seinem Podest.
»Nun kommen Sie, nur einen klitzekleinen Blick«, beschwatzte ihn Ruthven mit nicht unbeträchtlichem Charme. Zuweilen konnte er ein rechter Spaßvogel sein.
Hallward zeigte ihm seinen Zeichenblock, und nachdem Ruthven diesen durchgeblättert hatte, bekundete er seine Zustimmung.
»Sehr schön, Hallward«, bemerkte er. »Ich glaube, Sie haben mich tatsächlich getroffen. Godalming, sehen Sie nur, sehen Sie
sich diesen Ausdruck an. Ist er mir nicht wie aus dem Gesicht geschnitten?«
Godalming pflichtete Ruthven bei. Der Premierminister war entzückt.
»Sie sind viel zu neu geboren, um Ihr Gesicht schon jetzt vergessen zu haben, Godalming«, sagte Ruthven, indem er
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