Die Vampire
seine Wangen befingerte. »Als mein Blut, so wie das Ihre, kaum erkaltet war, da schwor ich mir, dass es so weit nie kommen würde. Aber ach, die Vorsätze der Jugend. Dahin, dahin, dahin!«
Von der Philosophie wechselte Ruthven unversehens zur Naturwissenschaft. »Es ist falsch, dass Vampire über kein Spiegelbild verfügen. Nun, der Spiegel möchte gleichsam beständig nicht das spiegeln, was hier draußen in der Welt ist.«
Godalming hatte wie alle Neugeborenen Stunden damit zugebracht, voller Verwunderung in einen Rasierspiegel zu starren. Die einen verschwanden gänzlich, die anderen erblickten eine allem Anschein nach leere Kleidergarnitur. Godalmings Abbildung war nichts weiter als ein schwarzer Klecks, wie die Fotografien, die Ruthven soeben erwähnt hatte. Die Spiegel-Frage wurde gemeinhin als das unergründlichste aller Geheimnisse erachtet, die sich um die Untoten rankten.
»Wie dem auch sei, Godalming … Silver Knife? Diese blutgierige Bestie. Er geht allenfalls nach unsereins auf Raub aus, nicht wahr? Schlitzt Kehlen auf und durchbohrt Herzen?«
»So sagt man wenigstens.«
»Ein furchtloser Vampirmörder, wie unser alter Gefährte Van Helsing?«
Godalmings Gesicht brannte wie Feuer; wenn er noch erröten konnte, so geschah es in diesem Augenblick.
»Pardon«, sagte der Premierminister ohne jede Heuchelei. »Ich hatte keineswegs die Absicht, dieses Thema aufzuwerfen. Es muss sehr schmerzvoll für Sie sein.«
»Das Blatt hat sich gewendet, Mylord.«
Ruthven machte eine flatternde Handbewegung. »Sie haben Ihre Verlobte an Van Helsing verloren. Da Sie durch ihn mehr Leid erfahren mussten als selbst Fürst Dracula, sei Ihnen Ihre Ignoranz vergeben und vergessen.«
Godalming entsann sich, wie er auf den Pflock eingehämmert hatte, wie Lucy fauchend und blutspeiend gestorben war. Ein unnützer, sinnloser Tod. Lucy wäre eine der ersten Damen bei Hofe gewesen, wie Wilhelmina Harker oder die karpatischen Mätressen des Prinzgemahls. Er hätte sie ohnehin verloren.
»Sie haben allen Grund, das Andenken des Holländers zu verfluchen. Eben deshalb möchte ich, dass Sie meine Interessen im Falle Silver Knife vertreten.«
»Ich verstehe nicht recht.«
Ruthven war auf das Podest zurückgekehrt und hatte seine frühere Pose wieder eingenommen. Mit flinken Fingern führte Hallward die Einzelheiten einer großen Skizze aus.
»Der Palast hat Interesse an der Sache bekundet. Unsere werte Königin ist außer sich. Ich habe eine persönliche Mitteilung von Vicky erhalten. ›Der Mörder ist gewiss kein Engländer‹, lautet ihre Folgerung, ›und ist er es doch, so ist er gewiss kein Gentleman. ‹ Überaus scharfsinnig.«
»Whitechapel ist eine berüchtigte Brutstätte für Ausländer, Mylord. Die Königin hat womöglich nicht ganz Unrecht.«
Ruthven lächelte spöttisch. »Blech, Godalming, Blech. Zwar würden wir alle uns nur zu gern davon überzeugen lassen, dass ein Engländer außerstande sei, solch abscheuliche Untaten zu vollbringen, doch ist dies beileibe nicht der Fall. Sir Francis Varney ist schließlich ebenso Engländer. Nur geht unser Mörder höchst wählerisch zu Werke, was seine nächtlichen Chirurgie-Experimente anbetrifft.«
»Sie meinen, der Täter ist Arzt?«
»Diese Theorie ist erstens nicht besonders neu und zweitens ohne jeden Belang. Nein, von Bedeutung ist einzig und allein, dass wir es mit einem Vampirmörder zu tun haben. Einem mörderischen Irren, wie wir wohl annehmen dürfen, der jedoch ausschließlich Vampire metzelt. Angesichts der delikaten Situation, in der wir uns befinden, wandelt er auf Messers Schneide. Das Volk mag seine Taten noch so sehr missbilligen und Zeter und Mordio schreien, gleichwohl gibt es welche, die Silver Knife als gesetzeslosen Helden feiern, als einen Robin Hood der Gosse.«
»Welcher Engländer wollte dem wohl Glauben schenken?«
»Haben Sie die Zeit vergessen, als Sie noch warmen Blutes waren? Wie es Ihnen erging, als Sie Van Helsing mit Hammer und Pflock über den Friedhof von Kingstead folgten?«
Godalming verstand.
»Das Beste wäre - obgleich ich eine solche Tat natürlich keineswegs gutheißen kann -, wenn unser Verrückter mit seinem Silbermesser einer warmblütigen Bordelliere zu Leibe rückte und somit den Beweis erbrächte, dass er vor nichts, aber auch gar nichts haltmacht. Gesetzt den Fall, er genießt die Sympathien der Leute, würden sich diese bei einem solchen Schritt auf einen Schlag verflüchtigen.«
»Wohl wahr.«
»Doch
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