Die Vampire
die Kirchen werden achtungslos behandelt, wenngleich es bei Hofe folgsame Erzbischöfe gibt, die verzweifelt bestrebt sind, Anglikanismus und Vampirismus in Einklang zu bringen. Zu Lebzeiten mordete der Prinzgemahl zur Verteidigung des Glaubens. Er wähnt sich auch jetzt noch einen Christenmenschen. Die königliche Hochzeit im vergangenen Jahr war eine pomphafte Schaustellung der Hochkirche, die Pusey und Keble gewiss in Entzücken versetzt hätte.
Als ich den Friedhof betrat, konnte ich mich der Erinnerung nicht erwehren, die so klar und schmerzvoll in mir aufstieg, als wäre es vergangene Woche erst geschehen. Ich redete mir ein, dass wir ein Ding vernichtet hatten, nicht das Mädchen, das ich liebte. Als ich ihr den Hals durchtrennte, fand ich meine Berufung. Meine Hand tat verteufelt weh. Ich habe versucht, meinen Gebrauch des Morphiums einzuschränken. Zwar weiß ich, dass ich mich in
ordentliche Behandlung begeben sollte, doch bin ich der festen Überzeugung, dass ich die Schmerzen brauche. Ihnen verdanke ich meine Entschlossenheit.
Während die ersten Veränderungen vor sich gingen, begannen die Neugeborenen die Gräber von verstorbenen Verwandten zu öffnen, in der Hoffnung, sie mit Hilfe der Osmose ins Vampirleben zurückzuholen. Ich musste auf meine Schritte achten, den schlundartigen Löchern zu entgehen, die ihre fruchtlosen Bemühungen hinterlassen hatten. Hier heroben war der Nebel lichter, wie ein Schleier aus Musselin.
Es bereitete mir keinen geringen Schreck, vor der Gruft der Westenras eine Gestalt zu erblicken. Eine schlanke junge Frau im mit falschem Pelz besetzten Mantel und einem Strohhut mit einem roten Band, der auf ihrem festgesteckten Haar thronte. Als sie mich kommen hörte, wandte sie sich um. Ich erhaschte einen Blick aus ihren rot glühenden Augen. Im Gegenlicht besehen, hätte sie die dem Grab entstiegene Lucy sein können. Mein Herz machte einen Satz.
»Sir?«, sagte sie, erschrocken über mein Erscheinen. »Wer mag das sein?«
Die Stimme gehörte einer Irländerin, sie klang ungebildet, unbeschwert. Es war nicht Lucy. Ohne den Hut zu lüften, nickte ich ihr zu. Die Neugeborene hatte etwas Vertrautes an sich.
»Nanu«, sagte sie, »wenn das nicht Dr. Seward von der Hall ist.«
Ein später Sonnenstrahl spießte den Nebel, und die Vampirfrau wich zurück. Ich erkannte ihr Gesicht.
»Kelly, nicht wahr?«
»Marie Jeanette, Sir«, sagte sie. Allmählich gewann sie ihre Fassung wieder, und es gelang ihr, erst geziert, dann zögerlich zu lächeln, sich in meine Gunst zu setzen. »Wollen Sie den Toten die Ehre erweisen?«
Ich nickte und legte mein Blumengebinde nieder. Sie hatte das ihre an der Türe zur Gruft dargebracht, ein billiges Bouquet, das sich neben meiner kostspieligen Achtungserweisung winzig ausnahm.
»Kannten Sie das junge Fräulein?«
»Ja.«
»Sie war schön«, sagte die Kelly. »Bildschön.«
Ich konnte mir beim besten Willen keinen Begriff davon machen, in welcher Verbindung diese grobknochige Nutte zu meiner Lucy gestanden haben mochte. Sie war frischer als die anderen und doch nichts weiter als eine gemeine Hure. Wie die Nichols, die Chapman und die Schön …
»Sie hat mich verwandelt«, erklärte die Kelly. »Sie hat mich eines Nachts, wie ich vom Besuch bei einem Herrn nach Hause ging, auf der Heath angetroffen und in ein neues Leben entlassen.«
Ich sah mir die Kelly etwas genauer an. Wenn sie tatsächlich Lucys Spross war, bestätigte sie eine Theorie, von der ich gehört hatte: dass die Nachkommen von Vampiren ihren Fangeltern mit der Zeit immer ähnlicher sehen. Ihr kleiner roter Mund und ihre kleinen weißen Zähne hatten durchaus etwas von Lucys Zartheit an sich.
»Sie hat mich verwandelt, wie der Prinzgemahl auch sie verwandelt hat. Ich gehöre also beinahe zur königlichen Familie. Die Königin ist meine Fangtante.«
Sie kicherte. Die Hand in meiner Tasche war wie in Feuer getaucht, eine geballte Faust, durchdrungen von geballtem Schmerz. Die Kelly kam mir nun so nahe, dass ich trotz ihres Parfüms die Fäulnis ihres Atems riechen konnte, und sie strich über meinen Mantelkragen.
»Das ist ein guter Stoff, Sir.«
Geschwind wie eine Schlange küsste sie meinen Hals, und mir
stockte das Herz. Auch jetzt noch finde ich keinerlei Erklärung oder Entschuldigung für die Gefühle, die mich dabei überkamen.
»Wenn ich Sie nur verwandeln dürfte, warmblütiger Herr, gehörten auch Sie zur königlichen Familie.«
Ich stand stocksteif, wie sie sich
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