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Die Vampire

Titel: Die Vampire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Newman
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zerbröckelten. Die Amworth hatte ihr Schienen angelegt, doch auch dies vermochte ihren Tod allenfalls hinauszuzögern.
    »Es wäre eine Gnade«, sagte die Amworth, »ihr das Sterben zu erleichtern.«
    Seufzend pflichtete Geneviève ihr bei. »Wenn wir doch nur auch ein Silbermesser hätten.«
    »Silbermesser?«
    »Wie der Mörder, Mrs. Amworth.«
    »Ein Reporter hat mir heute Abend erst erzählt, dass der Mörder einen Brief an alle Zeitungen geschrieben hat. Er will, dass man ihn von nun an Jack the Ripper nennt.«
    »Jack the Ripper?«
    »Ja.«
    »Was für ein alberner Name. Daran wird sich doch kein Mensch je erinnern. Er heißt nun einmal Silver Knife, und Silver Knife wird er auch bleiben.«
    Die Amworth stand auf und strich über den Saum ihrer knielangen Schürze. Der Fußboden in dem kleinen Raum war nicht gekehrt. Sie führten einen ständigen Kampf, die Hall sauber zu halten. Sie war schließlich nicht als Spital gedacht.
    »Mehr können wir nicht tun, Ma’m. Ich muss mich um die anderen kümmern. Mit ein wenig Glück können wir vielleicht das Auge des kleinen Chelvedale retten.«
    »Gehen Sie nur, ich bleibe bei ihr. Jemand muss schließlich auf sie achtgeben.«

    »Jawohl, Ma’m.«
    Die Wärterin ging, und Geneviève kniete an ihrer statt neben dem Bettchen nieder. Sie ergriff Lilys menschliche Hand und drückte sie fest. Auch jetzt noch war untote Kraft in den Fingern des Kindes, und es reagierte. Geneviève redete sanft auf das Mädchen ein, in Zungen, die Lily unmöglich verstehen konnte. In einem düsteren Winkel ihres Schädels nistete der Geist einer Französin des Mittelalters, welcher bisweilen zum Vorschein kam.
    Als sie mit ihrem leiblichen Vater umhergezogen war, hatte sie trotz ihrer kurzen Lebensspanne gelernt, die Sterbenden zu pflegen. Ihr Vater, der Feldscherer, versuchte selbst jene Männer noch zu retten, die ihr Kommandant ohne viel Federlesens bei lebendigem Leib begraben hätte, um sich ihrer zu entledigen. Der Schlachtfeldgestank von verfaultem Fleisch erfüllte nun auch dieses Zimmer. Sie besann sich auf die lateinischen Tiraden der Priester und überlegte, ob Lily einer Religion angehören mochte. Sie hatte nicht daran gedacht, einen Geistlichen an ihr Sterbebett zu rufen.
    Von allen Geistlichen der nächste war zweifellos John Jago, doch der Kreuzfahrer Christi würde sich gewiss weigern, einem Vampir die Letzte Ölung zu erteilen. Dann war da noch Reverend Samuel Barnett, der Pfarrer von St. Jude’s und Gründervater von Toynbee Hall, seines Zeichens Ausschussmitglied und Sozialreformer, der unermüdlich für die Räumung der Lasterhöhlen innerhalb der »sündhaften Viertelmeile« stritt. Sie entsann sich, wie er sprudelnd und mit zornesrotem Gesicht gegen den Weiberbrauch gewettert hatte, bei Raufereien den Oberkörper zu entblößen. Obgleich Barnett keineswegs die vernunftlosen Vorurteile eines John Jago hegte, stand er Geneviève überaus argwöhnisch gegenüber und hatte ihre Motive, sich der Wohlfahrtsbewegung des East End anzuschließen, sogar öffentlich infrage gestellt. Sie konnte es den Kriegern Gottes nicht verdenken, dass sie ihr misstrauten. Jahrhunderte, ehe Huxley den Begriff geprägt hatte, war
sie bereits Agnostikerin gewesen. Als sie bei Dr. Seward wegen ihres derzeitigen Postens vorstellig geworden war, hatte er gefragt: »Sie sind weder Temperenzlerin noch Kirchenfrau, was sind Sie?« Schuldig, hatte Geneviève gedacht.
    Sie sang die Lieder ihrer längst vergangenen Kindheit. Sie wusste nicht, ob Lily hören konnte. Der wächserne rote Ausfluss, der aus ihren Ohren trat, deutete darauf hin, dass sie ebenso taub war wie blind. Dennoch vermochte der Klang - vielleicht die Schwingungen der Luft oder der Hauch ihres Atems - die kleine Patientin zu besänftigen.
    »Toujours gai«, sang Geneviève mit krächzender Stimme, und heiße, blutige Tränen strömten über ihre Wangen, »toujours gai …«
    Lily schwoll der Hals wie einer Kröte, und brackiges Blut von braunschlierigem Scharlachrot quoll aus ihrem Mund. Geneviève drückte auf die Schwellung und hielt den Atem an, um den Geruch des Todes abzuwehren. Sie drückte fester, und Lied, Erinnerung und Gebet gingen in ihrem Kopf wirr durcheinander und brachen schließlich über ihre Lippen aus ihr hervor. Obgleich sie wusste, dass sie nicht gewinnen konnte, begann sie zu kämpfen. Jahrhundertelang hatte sie dem Tod getrotzt; nun forderte die große Finsternis dafür ihren Tribut. Wie viele Lilys hatten eines

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