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Die Vampire

Titel: Die Vampire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Newman
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ein dumpfes Pochen war, hatte ich mich, wie ich annahm, in den wimmelnden Massen verloren, die unseren neuen Herrn und Meister so sehr faszinierten. Vielleicht hatte er - in seiner teuflischen Grausamkeit, für die er ja berühmt ist - aber auch beschieden, dass es eine angemessenere Strafe sei, mir mein Leben zu lassen. Schließlich bin ich dem Prinzgemahl keine allzu große Bedrohung. Seit damals scheint mir das Leben wie ein Traum, ein Nachtschatten dessen, was eigentlich hätte sein sollen …
    Noch immer träume ich von Lucy, träume viel zu oft von ihr. Von ihren Lippen, ihrer blassen Haut, ihrem Haar, ihren Augen. Häufig schon haben meine Träume von Lucy mir nächtliche Ergüsse eingetragen. Feuchte Lippen und feuchte Träume …
    Ich habe mir Whitechapel für meine Arbeit ausgesucht, weil es der schäbigste Bezirk der Stadt ist. Von jenem falschen Schein, der nach Meinung vieler Draculas Herrschaft erst erträglich macht, ist hier nichts zu sehen. Wo Vampirschlampen an jeder Ecke um Blut betteln und die Straßen mit berauschten oder toten Männern übersät sind, zeigt sich die wahre, wurmzerfressene Visage all dessen, was er angerichtet hat. Zwar fällt es mir schwer, inmitten so vieler Blutsauger nicht die Beherrschung zu verlieren, doch ist mein Wille ungebrochen. Früher einmal war ich Arzt, Spezialist für die Verwirrungen des Geistes. Nun bin ich Vampirmörder. Meine Aufgabe ist es, das korrupte Herz der Stadt herauszuschneiden.

    Das Morphium macht sich bemerkbar. Der Schmerz lässt nach, und meine Sehkraft wächst. Heute Nacht werde ich den Dunst mit scharfem Blick durchdringen. Ich werde den Vorhang zerfetzen und mich der Wahrheit stellen.
    Der Nebel, der London im Herbst wie ein Leichentuch umhüllt, wird immer dichter. Wie ich höre, ist allerlei Ungeziefer - Ratten, wilde Hunde, Katzen - prächtig am Gedeihen. In einigen Vierteln sind selbst mittelalterliche Krankheiten wieder aufgekeimt. Ganz so, als sei der Prinzgemahl eine brodelnde Kloake, aus der sich immerzu Abschaum ergießt, als beobachte er mit wölfischem Grinsen, wie sein Reich von Siechtum überquillt. Der Nebel hilft, die Grenzen zwischen Tag und Nacht zu verwischen. In Whitechapel ist an vielen Tagen in der Tat kein Sonnenstrahl zu sehen. Wie oft schon haben wir mit ansehen müssen, wie ein Neugeborener bei Tage dem Wahnsinn verfiel, weil ihm das trübe Licht das Hirn versengte?
    Heute war der Himmel erstaunlich klar. Ich verbrachte den Morgen damit, schwere Sonnenbrände zu behandeln. Geneviève nimmt sich der schlimmsten Fälle an, erklärt ihnen, dass es gemeinhin Jahre braucht, Widerstandskraft gegen das Sonnenlicht zu entwickeln. Es ist nicht leicht, Geneviève als das zu betrachten, was sie tatsächlich ist; doch bisweilen, wenn der Zorn in ihren Augen funkelt oder ihre Lippen unwissentlich spitze Zähne entblößen, geht der Schein der Menschlichkeit dahin.
    Der Rest der Stadt mag ruhiger sein, ist jedoch kein bisschen besser. Ich kehrte auf eine Portion Schweinefleischpastete und einen Krug Bier im Spaniards ein. Hoch über der Stadt, mit Blick hinunter auf das nebelverhangene Londoner Becken, aus dem die eine oder andere Giebelspitze hervorragte, hoffte ich mir einbilden zu können, es sei alles wie zuvor. Wider die Kälte mit Schal und Handschuhen gewappnet, saß ich im Freien, nippte an meinem Ale und dachte an dieses und jenes. In der Düsterkeit des
Nachmittags paradierten vornehme Neugeborene mit rot glühenden Augen und blasser Haut über Hampstead Heath dahin. Es schickt sich unterdessen sehr, der Mode zu folgen, wie die Königin sie vorgibt, und der Vampirismus ist - nach einigen Jahren der Ächtung - auch in der besseren Gesellschaft höchst willkommen. Hübsch herausgeputzte Mädchen mit Hüten strömen, die elfenbeinernen Zahndolche hinter japanischen Fächern verborgen, an schattigen Nachmittagen zur Heath hinaus, die schwarzen Sonnenschirme hoch über den Kopf erhoben. Lucy wäre wohl eine von ihnen, hätten wir sie nicht vernichtet. Ich sah sie schwatzen wie aufgescheuchte Ratten, Kinder abküssen mit kaum verhohlenem Durst. Es ist wahrhaftig kein Unterschied zwischen ihnen und den blutsaugerischen Dirnen von Whitechapel.
    Ich ließ meinen halbvollen Trinkkrug stehen und legte den Rest des Wegs nach Kingstead zu Fuß zurück, hielt den Kopf gesenkt und die Hände tief in den Manteltaschen vergraben. Das Tor stand offen, unbewacht. Seit das Sterben aus der Mode geraten ist, liegen die Kirchhöfe brach. Auch

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