Die Vampire
Chirurg.«
»Und Jack the Ripper weiß zwar um das Körperinnere, wühlt
sich aber mit der Finesse eines volltrunkenen Schweineschlächters durch die Eingeweide.«
»Genau.«
Er war es gewohnt, seine Gedankengänge erläutern zu müssen. Es war erfrischend, wenn nicht gar ein wenig beunruhigend, jemanden bei sich zu wissen, der mit ihm Schritt zu halten vermochte.
»Würde er absichtlich stümperhaft zu Werke gehen, um den Verdacht von sich abzulenken?«, fragte sie und gab sich sogleich eine Antwort: »Nein. Wenn Moreau verrückt genug wäre, zu Experimentierzwecken zu morden, würde er den Zustand seiner Beute nicht durch vorsätzliche Unachtsamkeit aufs Spiel setzen. Wenn er unser Ripper wäre, würde er seine Opfer entführen und an einen geheimen Ort verbringen, um sie in Muße operieren zu können.
Die Mädchen wurden alle dort getötet, wo man sie auch gefunden hat?«
Beauregard nickte. »Und zwar rasch, in Raserei. Nicht nach ›wissenschaftlicher Methode‹.«
Die Vampirfrau knabberte an ihrer Unterlippe und bot einen Augenblick lang das vollkommene Ebenbild eines ernsten sechzehnjährigen Mädchens in einem Kleid, das wie für eine ältere, leichtfertigere Schwester geschneidert war. Dann regte sich ihr uralter Verstand aufs Neue.
»Sie haben also Dr. Jekyll in Verdacht?«
»Er befasst sich mit der Chemie des Lebens, ist aber kein Anatom. Ich bin zwar nicht eben Fachmann auf diesem Gebiet, plage mich jedoch zuweilen mit seinen Artikeln ab. Er hegt mitunter sonderbare Ansichten. Über die Zusammensetzung des Vampir-Gewebes lautet der Titel seines neuesten Werkes.«
Geneviève sann über diese Möglichkeit nach. »Das ist allerdings kaum denkbar. Im Vergleich zu Moreau wirkt er so … harmlos. Er erinnert mich an einen Geistlichen. Und er ist alt. Ich kann mir
beim besten Willen nicht vorstellen, dass er bei Nacht durch die Straßen streicht; zudem verfügt er schwerlich über die enorme Kraft, die der Ripper besitzen muss.«
»Dennoch könnte etwas daran sein.«
Sie überlegte einen Augenblick. »Ja, Sie haben ganz Recht. Es könnte etwas daran sein. Ich glaube zwar nicht, dass Henry Jekyll der Ripper ist. Und doch haftet ihm etwas Merkwürdiges an.«
Beauregard war zutiefst erfreut, seinen Verdacht bestätigt zu finden. »Man wird ihn im Auge behalten müssen.«
»Charles, gebrauchen Sie mich als Bluthund?«
»Ich fürchte, ja. Haben Sie etwas dagegen?«
»Wuff wuff«, machte sie kichernd. Wenn sie lachte, entblößten ihre Lippen grauenhafte, spitze Zähne. »Sie dürfen mir keinesfalls vertrauen. Ich war einmal der festen Überzeugung, bis zum Winter sei der Krieg vorüber.«
»Welcher Krieg?«
»Der Hundertjährige.«
»Immerhin.« Er lachte.
»Eines Jahres schließlich hatte ich Recht. Aber da bekümmerte es mich schon nicht mehr. Wenn mich nicht alles täuscht, war ich damals in Spanien.«
»Sie stammen doch eigentlich aus Frankreich. Warum leben Sie dann nicht auch dort?«, fragte er.
»Damals gehörte Frankreich zu England. Darüber war es doch zum Krieg gekommen.«
»Also standen Sie auf unserer Seite?«
»Ganz und gar nicht. Aber das war vor langer Zeit, in einem anderen Land, und jenes Mädchen ist seit langem tot.«
»Whitechapel ist ein sonderbarer Ort, um auf jemanden wie Sie zu treffen.«
»Ich bin nicht die einzige Französin in Whitechapel. Die Hälfte aller filles de joie von der Straße nennt sich ›Fifi La Tour‹.«
Er lachte abermals.
»Ihre Familie stammt doch wohl ebenfalls aus Frankreich, Monsieur Beauregard, und Sie wohnen in Cheyne Walk.«
»Einem Carlyle war das gut genug.«
»Ich bin Carlyle einmal begegnet. Und nicht nur ihm. Den Großen und Guten, den Schlechten und Rechten. Früher habe ich befürchtet, jemand könnte mich aufspüren, indem er all die Memoiren, in denen ich über die Jahrhunderte Erwähnung fand, zueinander in Beziehung setzt. Aufspüren und vernichten. Früher schien mir dies das Schlimmste, was überhaupt geschehen konnte. Meine Freundin Carmilla wurde aufgespürt und dann vernichtet. Sie war ein recht rührseliges Mädchen, lebte in schrecklicher Abhängigkeit von ihren warmblütigen Liebhabern, dennoch verdiente sie es keineswegs, gespießt und enthauptet zu werden, um schließlich in einem Sarg voll mit ihrem eigenen Blut zu schwimmen. Aber ein so finsteres Schicksal brauche ich heutzutage wohl nicht mehr zu fürchten.«
»Was haben Sie in all den Jahren nur getrieben?«
Sie zuckte mit den Achseln. »Ich weiß nicht.
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