Die Vampire
Vielleicht habe ich mich auf der Flucht befunden? Vielleicht habe ich gewartet? Versucht, das Rechte zu tun? Was meinen Sie, bin ich ein guter Mensch? Oder ein schlechter?«
Sie erwartete keine Antwort. In ihrer Mischung aus Melancholie und Bitterkeit wirkte sie durchaus amüsant. Vielleicht war dies ihre Art, das Leben zu meistern. Wahrscheinlich zerrten die Jahrhunderte an ihr wie die Ketten an Jacob Marley.
»Kopf hoch, altes Mädchen«, sagte Beauregard. »Henry Jekyll hält Sie für geradezu perfekt.«
»Altes Mädchen?«
»Das sagt man so.«
»Hm«, erwiderte Geneviève traurig. »Aber trifft es nicht den Nagel auf den Kopf? Ich bin schließlich ein altes Mädchen.«
Welches Gefühl weckte sie in ihm? In ihrer Nähe war er nervös und auch erregt. Ihm war, als ob er sich in Gefahr befände, dabei hatte er sich jahrelang darin geübt, selbst unter Beschuss ruhig Blut zu bewahren. Wenn er mit Geneviève beisammen war, schien es, als teilten sie ein Geheimnis. Was hätte wohl Pamela von ihr gehalten? Sie hatte einen wachen Verstand besessen; selbst als der Tod sie zum Duell forderte, glaubte sie seinen Lügen nicht. Als es auf das Ende zuging, versuchte er ihr weiszumachen, sie werde gesunden und wohlbehalten heimkehren können. Pamela wies all seine Versicherungen zurück und verlangte, er solle ihr zuhören. Es fiel Pamela nicht leicht zu sterben: Sie war voller Zorn, nicht auf den törichten Arzt, sondern auf sich selbst, voller Zorn darüber, dass ihr Körper sie und ihrer beider Kind im Stich gelassen hatte. Ihre Wut brannte wie Feuer. Als er ihre Hand ergriff, konnte er sie spüren. Sie starb, noch ehe sie ihren Gedanken ausgesprochen hatte; seit jenem Tage quälte ihn die Frage, ob es etwas zu verstehen gab, die Frage, worum sich jener dringende Gedanke drehte, den Pamela zuletzt nicht mehr in Worte hatte pressen können.
»›Ich liebe dich.‹»
»Was?«
Genevièves Wangen waren mit Tränen benetzt. Zum ersten Mal schien sie jünger, als es ihr Gesicht vermuten ließ.
»Das wollte sie Ihnen sagen, Charles. ›Ich liebe dich.‹ Weiter nichts.«
Wutentbrannt ergriff er das Heft seines Stockdegens und schob mit dem Daumen den Haken beiseite. Ein Zoll schimmernden Silbers blitzte auf. Geneviève schnappte nach Luft.
»Es tut mir leid, es tut mir ja so leid«, sagte sie und schmiegte sich an ihn. »Ich tue so etwas sonst nicht, wirklich. Ich bin nicht neugierig. Aber …« Sie weinte heiße Tränen, die ihren Samtkragen befleckten. »Es war so deutlich, Charles«, insistierte sie und
schüttelte lächelnd den Kopf. »Ihre Gedanken wollten beinahe überfließen. Für gewöhnlich erhalte ich nur einen unbestimmten Eindruck. Eben jedoch habe ich zum ersten Mal ein vollkommenes Bild vor mir gesehen. Ich wusste, was Sie fühlten … o Gott, Charles, es tut mir ja so leid, ich wusste nicht, was ich tat, bitte, verzeihen Sie mir … und was sie fühlte. Ihre Stimme war scharf und schneidend wie ein Messer. Wie hieß sie?«
»Pen…« Er schluckte. »Pamela. Pamela, meine Frau.«
»Pamela. Ja, Pamela. Ich konnte ihre Stimme hören.«
Ihre kalten Finger klammerten sich um seine Hand, schlossen den Mechanismus seines Stockes. Genevièves Gesicht war seinem ganz nahe. In ihren Augenwinkeln schwammen rote Flecke.
»Nein, nein, nein. Sie haben all die Zeit an diesem Moment getragen und damit den Schmerz genährt. Er steckt in Ihnen, um gelesen zu werden.«
Er wusste, dass sie Recht hatte. Er hätte wissen müssen, was Pamela gesagt hatte. Er hatte es nicht hören wollen. Beauregard war mit Pamela nach Indien gereist. Er wusste um die Gefahr und hätte seine Frau heimschicken sollen, als man feststellte, dass sie ein Kind unter dem Herzen trug. Doch es kam zu einer Krise, und sie insistierte darauf zu bleiben. Sie insistierte, und er ließ sie insistieren; er zwang sie nicht, nach England zurückzukehren. Seiner Schwäche war es zu verdanken, dass sie blieb. Er verdiente es nicht, ihre letzten Worte zu verstehen. Er verdiente es nicht, geliebt zu werden.
Geneviève lächelte ihn durch einen Tränenschleier an. »Niemand trägt Schuld an ihrem Tod, Charles. Sie war zwar zornig. Aber nicht auf Sie.«
»Ich habe nie daran gedacht …«
»Charles …«
»Nun, ich habe nie bewusst daran gedacht …«
Sie hob einen Finger und legte ihn an seine Wange. Sogleich
nahm sie ihn wieder fort und hielt ihn staunend in die Höhe. Eine Träne war daran. Er zog ein Schnupftuch hervor und wischte sich damit die
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