Die Vampire
Augen.
»Ich weiß, wogegen Ihr Zorn sich richtete. Gegen den Tod. Ausgerechnet ich kann das verstehen. Ich glaube, ich hätte Ihre Frau gemocht, nein, ich hätte sie geliebt.« Geneviève führte ihren Finger an die Zunge, und sie durchfuhr ein leiser Schauer. Vampire konnten Tränen trinken.
Was Pamela von Geneviève gehalten hätte, war schwerlich von Bedeutung. Durchaus von Belang hingegen war, so erkannte er mit einem flauen Gefühl im Magen, was Penelope von ihr halten würde …
»Ich wollte wirklich nicht, dass es so weit kommt«, sagte sie. »Sie finden mich bestimmt schrecklich albern.«
Sie nahm sein Schnupftuch und tupfte sich damit die Augen. Sie blickte auf den feuchtgefleckten Stoff. »Nanu«, stieß sie hervor. »Salzwasser.«
Er war verwirrt.
»Für gewöhnlich weine ich Blut. Kein sehr erfreulicher Anblick. Nichts als Klauen und Zähne, wie ein rechter nosferatu.«
Nun nahm er ihre Hand. Allmählich verflog der Schmerz der Erinnerung; auf gewisse Art und Weise hatte er ihm Kraft gegeben.
»Geneviève, Sie unterschätzen sich. Ich weiß doch, dass Sie nicht wissen, wie Sie aussehen.«
»Ich entsinne mich eines Mädchens mit Entenfüßen und einem unförmigen Mund. Immerhin hatte sie hübsche Augen. Ich weiß nicht recht, aber ich glaube, sie war meine Schwester. Sie hieß Cirielle; sie ehelichte den Bruder eines französischen Feldmarschalls und starb als Großmutter.«
Ihre Geistesschärfe war zurückgekehrt, sie hatte sich wieder in der Gewalt. Allein die leichte Rötung ihres Halses verriet,
dass sie etwas empfand, und die schwand dahin wie Eis in der Sonne.
»Inzwischen hat sich meine Familie bestimmt über den ganzen Erdball verbreitet wie das Christentum. Auf diese oder jene Weise sind wahrscheinlich alle Lebenden mit mir verwandt.«
Er versuchte zu lachen, doch was sie sagte, war ihr voller Ernst.
»Ich kann mich nicht ausstehen, wenn ich in Tränen ausbreche, Charles. Verzeihen Sie, dass ich Sie in solche Verlegenheit gebracht habe.«
Beauregard schüttelte den Kopf. Irgendetwas zwischen ihnen bestand nicht mehr, doch wusste er nicht, ob es ein Band oder eine Mauer gewesen war.
29
Monsieur le Vampire II
C harles’ Träne prickelte ihr auf der Zunge. Sie hatte nicht von seinem Kummer kosten wollen, war jedoch unfähig gewesen, sich zu beherrschen. Infolge ihres hohen Alters wurde sie allmählich etwas wundersam und unergründlich. Die meisten Ältesten wurden verrückt. Wie Vlad Tepes. Von Charles hatte sie eine Perle der Erinnerung bekommen. Die Berührung einer zarten Hand, der Geruch des Blutes einer Sterbenden, Schmutz und Hitze eines fernen Landes, der wütende Kampf einer Frau um ihr Leben, um neues Leben in die Welt zu setzen. Fremde Gefühle, fremder Schmerz. Geneviève konnte nicht schwanger werden, konnte nicht gebären. Hieß das vielleicht, dass sie im Grunde gar nicht lebte? Dass sie gar keine Frau war? Man sagte, Vampire seien
ungeschlechtlich und ihre Zeugungsorgane ebenso funktional wie die Augen auf den Federn eines Pfaus. Zwar fand sie am Liebesakt - auf gewisse Weise - durchaus Vergnügen, doch vermochte diese Empfindung dem Vergleich mit einem Liebesbiss keineswegs standzuhalten.
All dies wegen einer Träne. Sie schluckte und leckte ihren Gaumen, bis der Geschmack der Erinnerung verschwunden war.
»Gleich sind wir bei Toynbee Hall«, sagte Charles.
Sie befanden sich am Spitalfields Market, in der Lamb Street, um die Ecke von der Commercial Street. Der Markt, welcher bis weit nach Einbruch der Dämmerung geöffnet hatte, war hell erleuchtet und voller Menschen. Lärm und Geruch waren ihr wohlvertraut.
Der Wagen blieb schlagartig stehen. Geneviève wurde nach vorn geschleudert, gegen die hölzerne Blende, mit der die Front des Hansom verkleidet war. Charles bremste ihren Sturz und stützte sie, doch fand sie sich kniend in dem winzigen Fußraum wieder. Sie konnte nicht hinaussehen. Das Pferd wieherte hysterisch, während der Fuhrmann es mit einem »Ho!« und einem festen Ruck der Zügel im Zaum zu halten suchte.
Geneviève wusste sofort, dass etwas nicht stimmte.
Mit einem fürchterlichen Knacken fand das Wiehern jäh ein Ende. Der Kutscher fluchte, und den Umstehenden entfuhr ein Aufschrei des Entsetzens. Charles’ Miene verriet keinerlei Empfindung. Er war ein Soldat, wenige Sekunden nur vor der Attacke. Seit Jahrhunderten schon beobachtete sie diesen Ausdruck in den Gesichtern todgeweihter Männer. Ihre Augenzähne glitten hervor, und sie erregte
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