Die Vampire
fort.
Der Älteste stand vor ihr. Er beugte sich zu ihr herab und hob sie an den Schultern in die Höhe. Sie baumelte von seiner Hand wie ein Stück Stoff. Sie erschlaffte. Ihre Zehen strichen über das Pflaster. Es mochte Belustigung sein, was sie dort im schmutzigen Smaragdgrün seiner uralten Augen erblickte. Sein nadelbewehrtes Maul näherte sich ihrem Gesicht, und sie roch seinen parfümierten Atem. Aus dem scharfzahnigen roten Schlund stach eine spitze, rohrförmige Zunge hervor wie der Rüssel einer Mücke. Er konnte sie aussaugen, sie als leere Hülle zurücklassen. Das Schlimmste jedoch wäre es, wenn sie am Leben bliebe.
Als sie wieder festen Boden unter den Füßen spürte, blickte sie zu dem Wesen hinauf. Sie warf den Kopf in den Nacken und entblößte
demütig ihre Kehle. Die Zunge kam, sich wie eine Schlange windend, zu ihr hingekrochen; ihre mit Wurmzähnen besetzte Öffnung pulsierte. Geneviève gewährte ihm einige Sekunden, um seinen Sieg gehörig auszukosten, dann packte sie ihn unmittelbar unter den Achselgruben. Ihre Nägel bohrten sich durch sein Gewand, bis sie auf seine nackten Rippen stießen. Mit offenem Mund reckte sie sich nach seinem Gesicht und biss zu. Sie erhaschte seine Zunge und schloss ihre Kiefer fest um das zuckende Fleisch. Ein pfefferiger Geschmack überschwemmte ihren Mund und würgte sie im Hals. Die Zunge setzte sich, stärker noch als eine Schlange, gegen ihren Biss zur Wehr. Sie spürte, wie das widerliche Ding pochte. Der Vampir kreischte vor Zorn. Er litt fürchterliche Schmerzen. Ihre Zähne drangen wie eine Säge durch Knorpel und Muskeln und trafen schließlich klackend aufeinander. Die Zungenspitze wand und krümmte sich in ihrem Mund. Sie spuckte sie aus.
Der Vampir wirbelte herum, und ein ölig-schwarzer Sturzbach brach aus seinem Mundloch und ergoss sich über sein Gewand. Er kreischte noch immer, mit jedem Blutschwall sprudelten neue Schreie aus seiner Gurgel hervor. Dieses Wesen würde sich gewiss nicht von ihr nähren. Hustend und spuckend wischte sie sich mit ihrem zerfetzten Ärmel die Lippen, um sich des Geschmackes zu entledigen. Ihr ganzer Mund war wie betäubt, und ihre Kehle brannte. Der Älteste wirbelte zu ihr herum und drosch blindlings auf sie ein. Seine Schläge trieben sie gegen die Mauer, und er begann sie zu traktieren wie ein Boxer, mit Hieben in den Bauch und ins Genick. In seinem Zorn platzierte er seine Schläge nun nicht mehr allzu präzise. Er besaß zwar Kraft, doch kein Geschick. Schmerzen wüteten überall in ihrem Körper. Er packte sie beim Schopf, wie er auch das Pferd gepackt haben mochte, und riss ihren Kopf zur Seite. Ihre Nackenknochen brachen, und sie heulte auf in ihrer Qual. Der Vampir stieß sie zu Boden und trat
ihr in die Flanke. Dann sprang er auf ihre Rippen. Sie hörte ihre Knochen splittern.
Sie öffnete die Augen. Der Vampir blickte sie höhnisch an, bellend wie ein verletzter Seehund. Die untere Hälfte seines Gesichts war eine dampfende Masse aus Fleisch und Zähnen, die sich wiederherzustellen suchte. Blut und Speichel troffen auf Geneviève herab. Dann war er verschwunden, und andere Gesichter scharten sich um sie.
»Aus dem Weg«, hörte sie jemanden rufen. »So machen Sie doch Platz, um Himmels willen …«
Sie hatte Schmerzen. Ihre Rippen fügten sich, und jeder neue Atemzug linderte die fürchterlichen Stiche. Doch um ihr Genick war es geschehen. Ihre Knochen waren müde, ihr Blick von Rot getrübt. Sie wusste um den Schmutz, in dem sie lag, ihr blutverkrustetes Gesicht. Nun besaß sie nicht einmal mehr ein gutes Kleid.
»Geneviève«, sagte eine Stimme, »sehen Sie mich an …«
Ein Gesicht, ganz nahe. Charles.
»Geneviève …«
30
Der Groschen fällt
D a Beauregard es für das Beste hielt, sie nicht zu bewegen, schickte er Clayton nach Toynbee Hall, um Dr. Seward zu verständigen. Unterdessen tat er, was in seiner Macht stand, um für ihr Wohlergehen zu sorgen. Man hatte einen Eimer mit leidlich sauberem Wasser aus einem Hydranten gefüllt; er nahm ein Tuch und reinigte ihr Gesicht von Schmutz und Blut.
Was es auch gewesen sein mochte, es war verschwunden, mit sonderbar hüpfenden Schritten davongetrabt. Beauregard wollte, sein Stockdegen hätte das Ding aufgespießt. Zwar revidierte er allmählich seine Ansichten über Vampire, doch solch ein Monstrum hatte das Leben nicht verdient.
Er betupfte ihr Gesicht, und sie umklammerte seine Hand. Sie stöhnte bei jeder Regung ihrer gebrochenen Knochen.
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