Die Vampirjaegerin - Till the End of Time
Wünschen nachgegangen, und zwar bei Tageslicht. Sie neidete dieses menschliche Leben jenem Pärchen, jenem gestressten Menschen, der zum nächsten Termin hetzte, oder jenem vor sich hin dösenden Bankier im Park, der seine Mittagspause genoss. Sie neidete ihnen so viele Momente, die sie selbst nie erlebt hatte, von denen sie nicht einmal wusste, ob es der Realität entsprach oder schlicht nur ihren überzeichneten Vorstellungen. All diese Menschen hatten vermutlich viel Zeit mit ihren Eltern und Geschwistern verbracht, hatten kleine und große Schicksalsschläge ertragen, waren zum ersten Mal heimlich in ihren Nachbarn verliebt gewesen, hatten Höhen und Tiefen der menschlichen Gefühlswelt überstanden, den Schulabschluss gemacht, viele Partys gefeiert und waren nach einer durchzechten Nacht irgendwo auf einer Parkbank aufgewacht. Ein Stück weit beneidete sie diesen Menschen auch um ihre unbekannte Zukunft. Partnerwahl, Heirat, Kinder, Reisen, vielleicht eine Scheidung, vielleicht auch nicht. Zusammen mit dem Menschen, den man liebte auf einer Bank im Garten hinter dem eigenen Haus sitzen, umsäumt von Hibiskus und Lavendel, mit grünem Gras unter den nackten Füßen sein ganzes, langes Leben Revue passieren lassen, die alten faltigen Finger ineinander verschlungen haltend und gemeinsam den Sonnenuntergang bestaunen: So einen Lebensabend würde es für sie vielleicht gar nicht geben.
Vielleicht war auch gerade das der ideale Grund, jetzt mit ihrem menschlichen Leben Bekanntschaft zu schließen. Aber sie wusste, dass die Organisation das nicht zulassen würde. Und nun auch noch vor einem Killer, der womöglich auf sie angesetzt würde, davonlaufen wollte sie wirklich nicht. Aber vielleicht würde die Organisation ihr einen längeren Urlaub gewähren oder gar eine Ausnahme für sie machen, wenn sie nur eine gute Begründung vorbringen würde? Schließlich war sie jahrelang eine großartige Jägerin gewesen, hatte viele Vampire ermordet. Hatte sie da nicht so etwas wie Urlaub verdient?
Natzuya hatte recht gehabt: Sie hatte ihre Eltern mehr als einmal und mehr als genug gerächt. Irgendwann war selbst diese Motivation erloschen, und es war zur Gewohnheit geworden. Sie hatte eigentlich keinen anderen Lebensinhalt mehr gehabt. Sie war schlicht abhängig von der Organisation und ihr stets hörig. Nie hatte sie sich über ein mögliches Leben, vielmehr über dessen Vorbeimarsch Gedanken gemacht bis zu jenem Tag, als sie in dieser Gefängniszelle erwachte und Natzuya kennenlernte.
Sayura seufzte.
Natzuya.
Er allein war schuld, dass sie alles aufgab. Er war der Vampir, den sie nicht töten konnte; und selbst das kleinste Zögern stellte eine Schwäche dar, dies war ein Beweis ihrer Unfähigkeit, weiterhin Vampirjägerin zu sein. Sie hatte die Organisation verraten; jene Organisation, die sie aufgenommen, sie ausgebildet und ihr eine Rache erst ermöglicht hatte. Wieder kämpfte in ihrem Inneren die Jägerin mit dem Menschen Sayura. Natzuya war der Vampir, den sie näher kennengelernt hatte, der ihr gezeigt hatte, dass nicht alle Vampire Bestien sind, dass Vampire eigentlich auch nur Menschen sind. Bei diesem Gedanken musste Sayura plötzlich grinsen.
Sie haderte von Tag zu Tag mehr mit sich und ihrer Tätigkeit als Vampirjägerin. Vampire waren tote Menschen, sie lebten vom Blut anderer. Einige wie zum Beispiel Natzuya hatten es sich nicht freiwillig ausgesucht, Vampir zu werden. Sie mussten Blut trinken, denn wer wollte schon gerne sterben? War dann die Jagd nach Vampiren nicht auch eine Form von Rassismus?
Sayura war erschrocken über ihre Ansicht, diese neue Ansicht. Bis vor Kurzem war sie aufgegangen in der Jagd nach Vampiren, nach den Menschenmördern – jetzt suchte sie nach Entschuldigungen dafür, dass sie nicht jagen ging.
Verdammt noch mal!
Energisch benutzte sie jetzt die Fernbedienung. Das Fernsehprogramm war doch nicht so toll. Auf allen Sendern lief irgendein „Herz-Schmerz-Film“. Das konnte sie wirklich nicht gebrauchen. Ihre Gedanken drehten sich auch ohne solche Filme sowieso ständig nur um den einen, der dazu noch ein Vampir war; der Menschen tötete, um selbst zu leben; unsterblich und ein Kind der Nacht war: um Natzuya, den Vampir.
Jedes Mal, wenn sie wieder zur Arbeit ins „Naked“ ging, wusste sie nicht, ob sie sich wünschte, dass er einfach da wäre und sie mitnahm – oder ob sie Angst hatte, dass er überhaupt anwesend wäre.
Gesehen hatte sie ihn bisher nicht. Er hielt nichts
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