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Die Verbannung

Titel: Die Verbannung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julianne Lee
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er den Heimweg an. Er überquerte die Berge, so schnell es ihm mit einem voll beladenen Karren, an dem zwei junge, widerspenstige Schafe festgebunden waren, nur eben möglich war.
    Als er am Ufer eines kleinen Sees entlangmarschierte, dessen Namen er nicht kannte, traf er auf ein junges Mädchen, das am Ufer kniete und bitterlich weinte. Eine Hand hielt sie fest gegen ihr Gesicht gepresst. Es war ein kalter Tag, und sie zitterte unter ihrem roten Umhang.
    Dylan verlangsamte seine Schritte. Es war ein hübsches Mädchen, noch sehr jung; ihr Haar war sogar noch dunkler als seines und schimmerte im wässrigen Sonnenlicht bläulich. Als er bei ihr angelangt war, fragte er: »Stimmt etwas nicht, Miss?« Dabei blickte er sich nach einem Vater, Bruder oder irgendeinem Mann um, der für sie verantwortlich war, aber es schien niemand in der Nähe zu sein. »Kann ich Euch helfen?«
    Als sie zu ihm aufblickte, zuckte er erschrocken zusammen. Dort, wo ihr rechtes Auge gewesen war, gähnte nur noch eine leere Höhle. Ihre gesamte Gesichtshälfte musste von einem Dolch oder Schwert aufgeschlitzt worden sein. Die Narbe war schon alt und vernarbt - und ganz offensichtlich der Grund für das Leid des Mädchens.
    Sanft wiederholte er: »Kann ich Euch helfen, Miss?«
    In ihrem gesunden Auge flackerte abgrundtiefes Misstrauen auf. »Ich brauche keine Hilfe von einem Mann.«
    Dylan kauerte sich neben sie. »Würdet Ihr mich besser kennen, dann würdet Ihr vielleicht feststellen, dass ich anders bin als andere Männer.«
    Das erwartete Lächeln blieb aus. Stattdessen sagte sie: »Würde sich ein gut aussehender Mann wie Ihr dazu herablassen, einem hässlichen Mädchen einen Schluck Wasser zu holen?«
    Ihr schroffes Benehmen begann ihn zu ärgern, aber er gehörte nicht zu den Männern, die es Frauen und Mädchen gegenüber an Höflichkeit fehlen ließen. Nur zu schnell zog man sich so den Zorn eines männlichen Verwandten zu. Also erwiderte er: »Selbstverständlich«, nahm den Becher, der immer an seinem Gürtel hing, wenn er unterwegs war, und ging zum Ufer des Sees hinunter. Dort füllte er den Becher und brachte ihn dem Mädchen.
    Sie schüttelte den Kopf, als er ihn ihr anbot. »Nein, trinkt Ihr zuerst.«
    Das brachte ihn etwas aus der Fassung, aber er fand, dass ihm ein Schluck Wasser nichts schaden konnte, und setzte den Becher an die Lippen. Aber bevor er trinken konnte, fragte das Mädchen scharf: »Hat Euch Eure Mutter nicht beigebracht, dem Herrn für Euer Essen und Trinken zu danken?«
    Der Ärger verstärkte sich, doch Dylan nahm sich zusammen und gehorchte. »Vater, wir danken dir für deine Gaben. Segne dieses Wasser und jene, die davon trinken. Amen.« Dann trank er und gab den Becher an das Mädchen weiter. Auch sie nahm einen großen Schluck und reichte ihm den Becher zurück.
    Im selben Moment verschwand die furchtbare Narbe, und ihr rechtes Auge funkelte ihn klar und gesund an. Ein kaltes Lächeln trat auf ihr Gesicht, dann war sie verschwunden. Nur der feuchte Abdruck ihrer Lippen auf dem Becher verriet, dass sie eben noch hier gewesen war.
    Dylan brach der kalte Schweiß aus. Fröstelnd stand er im kühlen Wind, der vom See herüberwehte, und sah sich verwirrt um. Allmählich begriff er, was soeben geschehen war. Er erinnerte sich an den Wolf, dem er ein Auge ausgestochen hatte, und an die Geschichte von Cuchulain. Während der Wind ihm das Haar ins Gesicht blies, flüsterte er in den leeren Raum: »Morrighan, was willst du von mir?«
    Aber er erhielt keine Antwort.
    Dylan setzte eilig seinen Weg fort und erreichte bereits am nächsten Tag das Tal. Er wollte seinen Karren möglichst unauffällig an der Garnison vorbeischmuggeln, weil ihm sein Destillierapparat garantiert Schwierigkeiten mit den Soldaten Seiner Majestät bescheren würde, und daher war es das Beste, wenn Major Bedford und seine Handlanger erst gar nichts davon erfuhren. Leider waren alle Pfade durch die Wälder und Hügel für den Karren zu schmal und holperig, und so war er gezwungen, den Weg zu nehmen, der an der Garnison vorbeiführte. Missmutig beschloss er, einfach sein Glück zu versuchen. Vielleicht erkannte ja niemand den wahren Zweck des Gerätes. Vorsichtshalber schnitt er ein paar Kiefernzweige ab und bedeckte den Kessel und die Kupferrohre damit. Jetzt konnte er nur hoffen, dass er nicht angehalten wurde.
    Die Sonne ging schon fast unter, als er so unbefangen wie nur möglich an der Garnison vorbeimarschierte. Er winkte sogar den beiden

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