Die Verbannung
flüchtiger Blick bestätigte ihm, dass sich sonst niemand im Raum aufhielt. Trotzdem war Dylan sicher, dass irgendjemand ihn beim Namen gerufen hatte. Er lehnte sich zurück, zog unauffällig seinen Götterstein aus der Tasche, nachdem er sich vergewissert hatte, dass Ramsay ihm keine Beachtung schenkte, hielt ihn dann wie ein Monokel ans Auge und spähte durch das Loch in dem kleinen grauen Stein. Nein, Sinann kauerte nicht unsichtbar in irgendeiner Ecke. Wahrscheinlich trieb sie sich in den Straßen herum, um nichts ahnende Bürger zu piesacken. Es bereitete ihr ein diebisches Vergnügen, zu beobachten, wie Leute auf dem glitschigen Boden ausrutschten und hinfielen, und sie wollte sich vor Lachen ausschütten, wenn einer der eingebildeten Lowlandgecken über seine eigenen Füße stolperte und unsanft auf seinem Allerwertesten landete. Dylan verstaute den Stein wieder in seinem sporran und blickte sich noch einmal um. Die Fee blieb verschwunden.
Die Stimme hatte wie die einer Frau geklungen. Konnte es Cait gewesen sein? Er schloss die Augen, um sich besser konzentrieren zu können. Es war schon so lange her, seit er sie zuletzt gesehen und ihre Stimme gehört hatte. Dachte sie an ihn? Versuchte sie vielleicht sogar, Kontakt zu ihm aufzunehmen? Das hatte sie ja schon einmal getan. Dylan stützte sich auf die Ellbogen, schabte an seinem Flugzeug herum und versuchte, seinen Geist für Cait zu öffnen. Doch die Stimme war verstummt. Cait war nicht hier, sie wurde in Ramsays Haus gefangen gehalten. Dylan blickte zu seinem Arbeitgeber hinüber und befand, dass es an der Zeit war, herauszufinden, wo der Mann wohnte.
»Du musst versuchen, Ramsays Haus ausfindig zu machen.«
»Nein. Ich lasse nicht zu, dass du dich unnötig in Gefahr bringst.« Sinann kauerte auf dem Kopf teil von Dylans Bett, während er sich auskleidete.
»Das ist mir egal. Ich muss wissen, wo er wohnt. Cait hält sich irgendwo in Edinburgh auf, vielleicht sogar ganz in meiner Nähe. Ihn habe ich eine Stunde nach meiner Ankunft in der Stadt gefunden, und jetzt bin ich seit zwei Wochen hier und weiß immer noch nicht, wo sie ist. So groß ist Edinburgh nun auch wieder nicht. Es muss doch möglich sein, herauszubekommen, wo er sie festhält. Ich möchte, dass du ihm morgen folgst, wenn er das Büro verlässt.«
Sinann musterte ihn zweifelnd. »Und was willst du tun, wenn ich sie gefunden habe? Sie entführen? Och, ich sehe es direkt vor mir, wie du in sein Haus marschierst, dir Cait über die Schulter wirfst, dir den Kleinen unter den Arm klemmst und dann in die Highlands flüchtest, mit Ramsay und so vielen von König Georges Männern auf den Fersen, wie er zusammentrommeln kann.«
»Ich muss wissen, wo sie sind. Ich ertrage diese Ungewissheit nicht länger.« Dylan starrte aus dem Fenster, wo zwischen den hohen Häusern ein kleines Stück schwarzen Nachthimmels zu sehen war.
»Dylan ...«
»Es ist mein Ernst.«
Sinann seufzte. »Na schön.«
Am folgenden Abend führte die Fee Dylan die High Street hoch bis zum Lawnmarket, zu einer Stelle, von der aus man die gesamte Festung überblicken konnte. Dylan blieb stehen und betrachtete das imposante Bauwerk und die mächtigen, um hundertachtzig Grad schwenkbaren Kanonen, die es bewachten. Fackeln flackerten auf der Burgmauer und an den Wänden, und hinter den riesigen Buntglasfenstern leuchteten unzählige Kerzen, die blaue und gelbe Schatten auf den Boden warfen.
»Es war gar nicht so einfach, Ramsay zu folgen«, beschwerte sich Sinann. »Er hat nämlich einen großen Umweg gemacht, weil er sich in einem bestimmten Laden noch mit Schnaps eindecken musste. Wenn ihm jemand nach dem Leben trachtet, dann wäre es ein Leichtes, ihm bei einer seiner nächtlichen Wanderungen einen Dolch zwischen die Rippen zu stoßen.«
Dylan riss sich vom Anblick der hell erleuchteten Festung los und musterte Sinann stirnrunzelnd. »Ich habe nicht vor, ihn zu töten, Tink.«
»Aye, das ist mir schon klar.« Doch er wusste, dass sie insgeheim wünschte, er würde es doch tun.
Er folgte Sinann bis zu einem der vielen Hinterhöfe abseits des Lawnmarket. Ramsays Haus lag am Westende der High Street, ein Stück oberhalb der Bank Street, die in nördlicher Richtung entlang des kleinen künstlichen Sees am Fuße des Felsens von Edinburgh verlief.
Das Haus war ein Meisterwerk der Baukunst. Dylan verbarg sich in dem Bogengang, der den Eingang des Hofes bildete. Hier war er vor neugierigen Blicken sicher, falls jemand auf die
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