Die verborgene Botschaft: Roman (German Edition)
elf, als es zu dem großen Streit kam, der alles veränderte. Boboni und die Stiefmutter teilten ihrer Mutter mit, dass das Kind alt genug sei, die Männer zu unterhalten. Während sich Sanduschta hinter ihr versteckte, tobte und schrie ihre Mutter, dass es bis hinunter auf die Straße drang. Sanduschta hatte ihre Mutter noch nie so außer sich gesehen. Der Streit und Mutters Weigerungen hatten mit ihr zu tun, aber sie verstand nicht, worum es ging. Es dauerte nicht lange, bis Boboni die Nerven verlor. Er schlug Sanduschtas Mutter, bis sie halb tot am Boden lag, dann griff er das Kind an den Haaren und zerrte es in sein Zimmer. Die Stiefmutter stand dabei, ohne eine Miene zu verziehen.
Boboni ließ sie erst anderthalb Tage später wieder zu ihrer Mutter. Sanduschta war gebrochen, ihr Körper geschändet, ihre Seele zerstört. Sie hatte gelernt zu hassen. Als ihre Mutter wenige Tage später an ihren Verletzungen starb, schwor sie sich, Boboni umzubringen.
Die richtigen Pulver zu besorgen war einfach gewesen. Boboni und die Stiefmutter verendeten mit Krämpfen und Schaum vor dem Mund. Niemand hatte Sanduschta, ein schmächtiges Mädchen mit riesigen, angstvollen Augen, im Verdacht, und die Leichen wurden ohne Zeremoniell bestattet. Der »Blumengarten der Freude« und mit ihm alle Mädchen bekam eine neue Besitzerin.
Sanduschta unterhielt seit einigen Jahren die Gäste mit Tanz und Gesang und nahm sie auch mit in ihr Zimmer, doch obwohl sie hart arbeitete, konnte sie kaum Geld zurücklegen. Mit Mitte zwanzig war sie schon verhältnismäßig alt, als sie ihr erstes Kind zur Welt brachte: Tamaskana. Es folgten noch zwei Kinder, ein Junge und ein Mädchen. Der Junge wurde verkauft, als er erst zwei Jahre alt war. Es verging kein Tag, an dem Sanduschta nicht das verheulte Gesicht ihres kleinen Sohnes vor sich sah, als er von ihr fortgetragen wurde.
Es ging weiter bergab. Sanduschta war niemals eine Schönheit gewesen, und ihr hartes Leben ließ sie schnell altern. Teure Schminke konnte sie sich nicht leisten, und die Kunden entschieden sich immer häufiger für eines der jüngeren Mädchen. Dann wurde sie krank, und die Stiefmutter setzte sie vor die Tür. Tamaskana begann, an ihrer Stelle zu arbeiten.
Als die Mutter ihre Erzählung beendet hatte, blieb es lange still.
»Das Leben ist ein ewiger Kreislauf«, sagte Sanduschta schließlich tonlos. »Alles wiederholt sich.« Sie schluckte hart. »Ich wollte dich und deine Schwester beschützen, Tamaskana, aber …«
»Du hast getan, was du konntest, Mutter. Ich liebe dich«, sagte Tamaskana leise.
»Meine Wiedergeburt wird zeigen, wie schwer mein Verbrechen wiegt. Ich bereue es nicht, deinen Großvater vergiftet zu haben. Ich hoffe, dass er in der Hölle leidet«, sagte Sanduschta heftig. »Das Jadepferd ist das Einzige, was von ihm geblieben ist. Ich habe es ihm abgenommen, als er zu schwach war, sich zu wehren. Es sollte mir helfen, dem ›Blumengarten‹ zu entfliehen, aber dann kam alles anders. Eines Tages war es verschwunden. Ich habe immer die Stiefmutter im Verdacht gehabt, aber ich konnte ihr nichts beweisen.«
Die Sonne stand jetzt hoch am Himmel und beleuchtete gnadenlos die trübe Umgebung und das eingefallene Gesicht Sanduschtas.
»Es ist schon spät, du wirst Ärger mit der alten Hexe bekommen. Geh jetzt«, sagte Sanduschta, »und komm morgen früh wieder. Wir werden die Pferdefigur verkaufen und dich dort herausholen.«
Tamaskana blickte weder nach rechts noch nach links, als sie zum »Blumengarten der Freude« zurückrannte. Die Geschichte ihrer Mutter hatte sie aufgewühlt. Als sie um eine Ecke bog, stieß sie so heftig gegen einen jungen Mann, dass sie das Gleichgewicht verlor und der Länge nach hinfiel. Der Mann half ihr auf.
»Hast du dir weh getan?«
»Nicht der Rede wert«, sagte Tamaskana und klopfte sich den Staub von ihrem Kleid. Sie wollte weitereilen, doch der Mann hielt sie am Arm fest.
»Du hast eigenartige Augen«, sagte er nachdenklich.
»Ja und?«, schnappte Tamaskana. Der Mann ließ sie nicht los.
»Wo willst du hin?«, fragte er.
»Das geht dich nichts an.«
»Ich habe es nicht böse gemeint. Kannst du ein Instrument spielen?«
Tamaskana sackte in sich zusammen. Obwohl sie nicht geschminkt war, hatte der Mann sofort erkannt, womit sie ihren Lebensunterhalt verdiente. Der »Blumengarten« hatte sich in jede Falte ihres Gewandes gesetzt, in jede Strähne ihres Haars, ließ sich nicht abschütteln.
»Ich spiele die Pipa.
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