Die verborgene Botschaft: Roman (German Edition)
seinen Besuch bei der Mutter dieses Kindes nie vergessen. Das junge Mädchen saß eingeschüchtert auf einem Teppich und hob nicht ein einziges Mal den Blick, während er mit ihrem Vater sprach. Die vielköpfige Familie lebte in einem winzigen, aus allen Nähten platzenden Lehmhaus. Li Yandao zählte nicht weniger als fünfzehn Personen in den drei kleinen Zimmern. Die Wände waren schwarz vom Ruß des Küchenfeuers, das Wasser holten die Frauen in Eimern von einem Wasserhahn fünfzig Meter die Straße hinunter. Ein Badezimmer oder gar eine Toilette gab es nicht. Es war lange her, seit Li Yandao mit derart ärmlichen Lebensumständen konfrontiert worden war.
Trotzdem hatten sich die Bewohner des Hauses ihre Würde bewahrt. Li Yandao wurde höflich empfangen, bekam Tee, Brot und Weintrauben angeboten und wurde zum Sitzen auf das beste Kissen genötigt, das im Haushalt aufzutreiben war. Als sie feststellten, dass Li Yandao genug Uighurisch sprach, um sich verständlich zu machen, taute die Stimmung merklich auf.
Der Vater des Mädchens, ein verhärmter Uighure, konnte nicht älter als fünfundvierzig sein, aber das harte Leben hatte Spuren in seinem Gesicht hinterlassen, die ihn wesentlich älter aussehen ließen. Nachdem Li Yandao von Yakubs Tod erzählt hatte, ergriff der Mann das Wort.
»Also hat es den Nichtsnutz erwischt. Ich sollte entsetzt darüber sein. Oder traurig. Immerhin ist er der Vater meines Enkels«, sagte er ruhig.
»Aber Sie sind nicht entsetzt«, stellte Li Yandao fest. Er hatte das Mädchen beobachtet. Sie zeigte keine Reaktion, sondern sah starr auf das schlafende Kleinkind auf ihrem Schoß.
»Nein. Yakub hat sich mit schlechten Männern abgegeben. Er hat versucht, meine Söhne zu überreden, mit ihm in ein Kaufhaus einzubrechen.« Ein winziges Lächeln huschte über das Gesicht des Vaters. »Meine Söhne sind gute Jungen, sie haben ihn fortgejagt. Aber da war Aisha schon schwanger, ohne dass ich es wusste.« Er unterbrach sich und sah seine Tochter müde an. »Es ist eine Katastrophe. Sie ist erst siebzehn. Niemand wird sie heiraten.«
»Was meinen Sie, wenn Sie sagen ›schlechte Männer‹?«
»Diebe, Betrüger, Falschspieler«, sagte der Mann. »Gesindel, das sich nicht um den Koran schert und mit den Chinesen Alkohol trinkt.«
»Kennen Sie die Leute, mit denen sich Yakub abgegeben hat?«
»Flüchtig. Ich kann Ihnen die Namen nennen, aber bitte erwähnen Sie nicht, dass ich Ihnen die Informationen gegeben habe.«
»Ich verspreche es, aber ich kann Ihnen nicht garantieren, dass sich die Leute nicht trotzdem zusammenreimen, wer sie mir verraten hat.«
»Dann ist es so. Meine Söhne und ich werden damit fertig.«
Ein junger Mann betrat das Haus. Er hatte dieselben hageren Gesichtszüge wie sein Vater, aber seine Jugend bewahrte ihm noch eine Frische, die einen Sonnenstrahl in das düstere Haus brachte. Er begrüßte Li Yandao und ließ sich neben seiner Schwester auf den Kissen nieder.
»Mohammad, mein jüngerer Sohn«, stellte sein Vater ihn mit Stolz vor. »Und dies ist Kommissar Li aus Kashgar.«
»Was führt Sie zu uns, Kommissar Li?«, fragte Mohammad.
Seine Miene verdüsterte sich, als sein Vater ihn ins Bild setzte.
»Er hat es nicht besser verdient«, sagte er. »Mit Honigworten hat er sich bei meiner armen Schwester eingeschmeichelt und ist dann verschwunden. Wir haben ihn aufgespürt und ihm die Meinung gesagt, aber er hat nie auch nur einen Yuan für den Jungen bezahlt. Ich wünschte, ich hätte ihn noch einmal in die Finger bekommen.«
»Sie haben ihn aufgespürt? Wann? Und wo?«, fragte Li Yandao schnell.
Der Vater warf Mohammad einen warnenden Blick zu, aber der junge Mann war zu zornig, um es zu bemerken.
»Anfang des Jahres. Mein Bruder hat ihn zufällig auf dem Wochenmarkt gesehen und ist ihm gefolgt. Dann hat er mich geholt, und wir haben Yakub einen Besuch abgestattet.«
»Was ist geschehen?«
»Er musste danach zum Zahnarzt.«
Li Yandao zuckte nicht mit der Wimper. »Da ist er nie gewesen. In seinem Oberkiefer fehlten auch im Oktober drei Zähne. Sie konnten ihn nicht überzeugen, die Verantwortung für seinen Sohn zu übernehmen?«
»Nein. Wir haben ihn nie wiedergesehen.«
Li Yandao ließ die Akte in den Schoß sinken und sah aus dem Fenster. Aishas Vater und ihre Brüder waren ehrliche, hart arbeitende Menschen, aber sie hatten ein starkes Motiv, Yakub zu ermorden: Rache, die Wiederherstellung der Familienehre. Li Yandao hatte folglich ihre Alibis
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