Die verborgene Botschaft: Roman (German Edition)
es nicht mehr ertragen«, stöhnte er und riss einen Ordner aus einem gefährlich schiefen Stapel, der prompt aus dem Gleichgewicht geriet und zu Boden fiel. »Ein chinesischer Fahrer hat beim Einparken einen Gemüsestand übersehen. Stell dir das vor, einen kompletten Gemüsestand! Wir sollten den Fahrer zum Sehtest schicken, aber stattdessen wird dem Gemüsehändler die Lizenz entzogen, weil er hinter seinen Möhren und Tomaten hergehechtet ist und den Verkehr gefährdet hat. Dann wäre da noch …«
»Erspar mir die Einzelheiten«, unterbrach Zhenguo, »sonst erzähle ich dir die Geschichte der uighurischen Großmutter, die einem Busfahrer ihren Schirm auf den Kopf gehauen hat, weil er ihrer Meinung nach unhöflich war.«
»Hat sie das tatsächlich getan?«, fragte Li Yandao verblüfft.
»Allerdings, und wenn du mich fragst: Wir sollten die Großmutter anheuern, um allen Busfahrern der Stadt eine Lektion zu erteilen. Danach nehmen wir uns die Taxifahrer vor«, sagte sein Kollege boshaft.
»Apropos Taxi: Hast du meinen neuen Dienstwagen gesehen?«
»Du hast einen neuen Wagen? Das ging aber schnell. Der alte ist doch erst vor …« – Zhenguo zählte die Wochen an seinen Fingern ab – »… vor fünf Wochen verreckt.«
»Vor sechs Wochen. Aber sieh ihn dir an.«
Li Yandao winkte seinen Kollegen zum Fenster und zeigte in Richtung der Pappel, neben der einige Wagen geparkt waren. Zhenguo trat neben ihn und stieß einen Pfiff aus.
»Ein brandneuer Dongfeng ›Bluebird‹! Womit hast du den verdient?«
»Habe ich nicht. Meiner ist der dahinter.«
»Das ist nicht dein Ernst, oder? Was ist das?«
»Ein Shanghai Saloon. Baujahr 1966. Genau wie ich.«
Zhenguo taxierte das Auto. Mit seinen kleinen Fenstern, der kastigen Form und den kapriziösen Heckflossen sah es aus wie ein Spielzeug, und zwar ein ausgesprochen strapaziertes Spielzeug. Verbeult und rostig, wie es war, schien sich das Auto hinter seinem jüngeren, glänzenden Parkplatzgenossen zu verstecken, als würde es sich schämen. Die Vorderansicht wiederum war bemerkenswert verschmitzt: Die großen Scheinwerfer sahen aus wie weit aufgerissene Augen über einem grinsenden Kühlergrill. Das Auto passte zu Li Yandao: Es hatte Charakter.
»Fährt es denn?«
»Na ja …«
»Jetzt verstehe ich deine schlechte Laune. Weißt du, was ich glaube? Du brauchst Urlaub.«
»Urlaub?«
»U-R-L-A-U-B. Ferien. Warum fährst du nicht einfach mal mit deinem neuen, äh, Vehikel in die Berge?«
»Zu kalt.«
»Zugegeben. Dann such dir was anderes.«
»Der Chef gibt mir keinen Urlaub. «
»Denk dir was aus. Hast du nicht einen Fall, der dir einen Vorwand liefert, in die Provinz zu fahren?«
»Und wer macht unterdessen meine Arbeit?«
»Ich.«
»Du?«
»Jawohl. Und jetzt gehe ich in die Kantine und überlasse dich deinem verkehrsgefährdenden Gemüse.«
Li Yandao sank auf seinen Stuhl. Ferien. Kashgar fiel ihm zunehmend auf die Nerven, er konnte eine Auszeit tatsächlich vertragen.
Die versteckte Feindseligkeit zwischen Chinesen und Uighuren zermürbte ihn. Er war Polizist geworden, weil er an das Gesetz glaubte, und zwar an ein Gesetz, das für alle Menschen gleich galt. Dennoch begegneten ihm die Uighuren und selbst die Chinesen mit Misstrauen, sobald er ihnen erzählte, dass er Polizist war. Er konnte es ihnen nicht verdenken. Nicht in einem Land wie China.
Er wühlte auf seinem Schreibtisch und zog einen dicken Ordner hervor. Dann drehte er seinen Stuhl zum Fenster, legte die Füße auf den lauwarmen Heizkörper und begann zu blättern.
Yakub Siddiq, dessen Leiche Ma Li Huo in der Baugrube entdeckt hatte, war ein schwieriger Mensch gewesen. Nachdem Li Yandao seine Identität festgestellt hatte, war er nach Yengisar gefahren und hatte Yakubs Arbeitskollegen und seinen Vorgesetzten in der Hoffnung befragt, einen Anhaltspunkt für den Mord zu finden. Die Arbeiter hielten sich erst zurück, aber nach und nach wurde deutlich, dass Yakub unter seinen Kollegen äußerst unbeliebt gewesen war. Ein Einzelgänger, streitsüchtig, faul, unzuverlässig. Niemanden überraschte es, dass er in Schwierigkeiten geraten war, die ihn letztendlich das Leben gekostet hatten, aber eine Erklärung konnte keiner der Männer liefern. Yakub hatte nicht über sein Leben außerhalb der Manufaktur gesprochen und an keiner der feierabendlichen Aktivitäten teilgenommen. Nach einigem Zögern wies der Vorarbeiter darauf hin, dass Yakub ein uneheliches Kind hatte.
Li Yandao würde
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