Die verborgene Botschaft: Roman (German Edition)
überprüfen lassen, ebenso die Alibis der genannten Männer. Niemand kam als Mörder in Frage. Die Ermittlung war zum Stillstand gekommen.
Beim Weiterblättern stieß Li Yandao auf das dürftige Protokoll, das sein Kollege Wei Weidian nach einem Besuch bei Yakubs Eltern in Khotan verfasst hatte. Li Yandao überlegte, ob er persönlich mit den Eltern sprechen sollte. Sein Kollege hatte ihm am Telefon mitgeteilt, dass der Vater abfällig über seinen Sohn gesprochen hatte. Gab es außer den üblichen Familienstreitigkeiten einen weiteren Grund dafür?
Er nahm die Füße von der Heizung, stand auf und verließ sein Zimmer. Mit entschlossenen Schritten ging er über den Flur zum Büro seines Vorgesetzten. Er wollte den Fall, der ihm seit Wochen keine Ruhe ließ, noch einmal aufrollen und nach Khotan fahren. Außerdem konnte er bei der Gelegenheit sein Versprechen einlösen und Batügül besuchen. Seine Stimmung besserte sich augenblicklich.
* * *
Vier Tage später war er tatsächlich seinem Büro entkommen und auf dem Weg nach Khotan. Das Auto klapperte fürchterlich. Li Yandao rechnete jederzeit damit, seinen Auspuff oder eine der Türen zu verlieren. Der Shanghai Saloon war ein Fossil aus der Steinzeit des chinesischen Automobilbaus und war schon kein Glanzstück gewesen, als er aus der Fabrik fuhr, dachte Li Yandao. Wo hatte sein Boss den Wagen bloß aufgetrieben? Und dann in dieser Farbe: Senfgelb. Li Yandao schüttelte sich.
Als er durch Yengisar rumpelte, drehten sich viele Leute nach ihm um. Für verdeckte Ermittlungen war der Wagen wirklich nicht zu gebrauchen. Ein Eselskarren, wie Ma Li Huo ihn vorgeschlagen hatte, wäre die bessere Alternative gewesen. Li Yandao war erleichtert, als er Yengisar hinter sich ließ; die Erinnerungen an die bedauernswerte Aisha und ihre Familie wollte er lieber abschütteln. Er konzentrierte sich auf das Fahren: Bis Khotan waren es noch über vierhundert Kilometer, und er würde sechs bis sieben Stunden für die Strecke benötigen. Mindestens.
Hinter Yengisar wurde die Landschaft eintönig. Flache Schotterwüste, so weit das Auge reichte. Und mitten auf der Straße die Fata Morgana eines Kamels.
Einen Meter vor der ihn unbeteiligt anglotzenden und wiederkäuenden Fata Morgana kam das Auto zum Stehen. Li Yandao hielt sich die Hand vor die Augen. Als er sie wegzog, war das Kamel immer noch da. Als eingefleischtem Städter war es ihm nicht in den Sinn gekommen, dass wilde Tiere tatsächlich auch in der Wildnis lebten. Das Kamel reagierte erst, nachdem er es fünf Minuten lang ausdauernd angehupt hatte, und schaukelte arrogant vor ihm her, bis es endlich von der Straße ging.
Als er weiterfuhr, fiel ihm ein, dass Ma Li Huo auch auf dieser Straße unterwegs gewesen war. Ob sie Kamele gesehen hatte?
Kilometer um Kilometer näherte er sich seinem Ziel. Wie immer, wenn Li Yandao längere Strecken in Xinjiang zurücklegte, war er von der harschen und kompromisslosen Schönheit der Landschaft gebannt. Die Maßlosigkeit der Wüste mit ihren endlosen Entfernungen und dem hohen Himmel ließ ihn spüren, wie klein und unbedeutend er selbst und seine Artgenossen waren. Er hatte Hochachtung vor den Menschen, die sich ihre Existenz aus dem Wüstenboden kratzten. Xinjiang erlaubte niemandem ein bequemes Leben.
Am frühen Abend erreichte er Khotan und parkte seinen Wagen vor dem Hotel neben dem Busbahnhof. In der Rezeption wies er sich bei der Angestellten aus und verlangte das Zimmer, in dem Ma Li Huo gewohnt hatte. Vielleicht gab es einen Hinweis, warum die Deutsche das Hotel so überstürzt verlassen hatte.
Das Zimmer war frei. Er trug seine kleine Tasche in den ersten Stock und suchte die Angestellte mit den Schlüsseln. Als sie ihm die Tür zu seinem Zimmer geöffnet hatte, wurde er von lautstarkem Blöken empfangen, das von dem Bett am Fenster ertönte. Li Yandao runzelte die Stirn: ein Schaf im Zimmer? Er warf die Tasche auf den Sessel und ging zum Fenster. Direkt darunter blökten drei Schafe in einem zur Hälfte überdachten Pferch lautstark nach Futter. Nachdenklich betrachtete Li Yandao das Dach: Hatte sich das erste Rätsel um Marions unbemerktes Verschwinden schon gelöst? Yandao trat zurück ins Zimmer. Es war reine Spekulation und mittlerweile nicht mehr wichtig.
Er zog sein Mobiltelefon aus der Jackentasche und wählte Batügüls Nummer. Ein alter Mann meldete sich und holte Batügül ans Telefon.
»Ja bitte?«
»Guten Abend, Batügül, ich bin es, Li
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