Die verborgene Botschaft: Roman (German Edition)
schreiben«, bemerkte Li Yandao ohne einen Funken Ironie.
»Was geschieht jetzt mit mir? Ich habe eine Menge Gesetze gebrochen.«
»Das hast du allerdings. Aber du hast das Kunstwerk auch freiwillig wieder zurückgebracht. Ich würde dich laufen lassen«, sagte er.
»Ja, du. Und was ist mit den anderen?«
»Außer dem Mann im Museum und mir weiß bisher niemand, dass du hier bist.«
»Du wirst mich erwähnen müssen. Ich tauche ja schon in deinen Ermittlungsunterlagen auf.«
»Jaa …«, sagte er gedehnt. »Aber wie du schon richtig festgestellt hast: Es sind meine Ermittlungsunterlagen. Ich bin zuversichtlich, dass alles gutgeht: Wenn wir diesen Russen und seine Handlanger erwischen, haben wir nicht nur den Mörder, sondern bekommen unter Umständen auch seine Hintermänner zu fassen. Das sollte deinen kleinen Schmuggel mehr als aufwiegen. Du bist eine reuige Einmaltäterin, und wir Chinesen sind keine Monster, auch wenn der Westen es häufig so darstellt. Jeder wird Verständnis für dich haben.« Ein Lächeln glitt über sein Gesicht. »Du könntest dich zum Beispiel öffentlich entschuldigen. Das macht immer Eindruck und würde hervorragend zur Mission des Museumsdirektors passen.«
Das Essen war kalt geworden. Li Yandao winkte eine der Kellnerinnen heran und bat sie, ihnen die gesamte Bestellung ein zweites Mal zu bringen. Das Mädchen sagte mit einem spitzbübischen Lächeln ein paar Worte zu Li Yandao und räumte dann die kalten Speisen ab.
»Was hat sie gesagt?«, fragte Marion.
»Sie findet, dass meine Freundin sehr hübsch ist«, antwortete er verlegen. »Aber sie versteht nicht, wie ich dir erlauben konnte, deine Haare abzuschneiden. Wenn ich in der Nähe gewesen wäre, hätte ich es bestimmt verhindert.«
Die Bemerkung blieb zwischen ihnen hängen. Marion fuhr mit dem Finger die Holzmaserung des Tisches nach. Seit sie Li Yandao am Flughafen gesehen hatte, flatterten Schmetterlinge in ihrem Bauch, selbst das unerfreuliche Gespräch über ihren Diebstahl hatte daran nichts geändert.
Das betretene Schweigen löste sich erst, als die Kellnerin einige Teller vor ihnen aufbaute. Über das Essen zu sprechen, war sicheres Terrain. Sie hatten sich halbwegs durch einen Berg von Fisch, Schwein und Gemüse gekämpft, als Li Yandao plötzlich mit der flachen Hand auf den Tisch hieb.
»Ich hab’s!«, rief er triumphierend.
Marion ließ vor Schreck ein Stäbchen in die Suppe fallen.
»Was hast du?«
»Der Russe … Beschreib ihn mir bitte noch einmal.«
»Nikolai? Knapp eins achtzig, blonde Haare, helle Haut. Schlank, aber er wirkt sportlich und drahtig. Am auffälligsten sind seine Augen: dunkelblau und leuchtend. Seine Wimpern und Augenbrauen sind fast weiß. Er sieht sehr gut aus, aber eine Chinesin würde mir vielleicht nicht zustimmen.«
»Der Mann, der dich bedroht hat, sieht gut aus? Frauen haben wirklich eine andere Wahrnehmung als Männer.«
Marion zuckte die Achseln. »Er hat einen merkwürdigen Gesichtsausdruck, spöttisch, als ob er sich über die ganze Welt lustig macht. Und er ist immer beherrscht und ruhig. Kalt. Er kann einem fürchterliche Angst einjagen.«
»Wie alt schätzt du ihn?«
»Schwer zu sagen. Mitte vierzig?«
Li Yandao nickte und rechnete im Stillen.
»Es hat den Anschein, als würdest du ihn kennen«, bemerkte Marion.
»Vor neun Jahren haben wir uns an einem Fall die Zähne ausgebissen. Damals war ich noch in Xi’an, aber nicht bei der Mordkommission. Es ging um den Diebstahl einer alten Meisterkalligraphie. Wir hatten einen Russen verhaftet, und jeder Einzelne von uns war der Überzeugung, dass er der Dieb war, aber wir konnten ihm nichts nachweisen. Der Russe war zu dem Zeitpunkt Mitte dreißig und sah genauso aus wie dein Nikolai. Sein überhebliches Grinsen habe ich nie vergessen.«
»Was ist mit ihm passiert?«
»Wir mussten ihn freilassen und konnten ihm nicht einmal sein Visum entziehen. Seitdem habe ich nichts von ihm gehört, aber das will nichts heißen. Ich werde meinen Kollegen anrufen, um den alten Fall auszugraben. Es gibt garantiert noch Fotos.«
»Ich würde ihn mit Sicherheit erkennen.« Marion stutzte. »Der Russe kennt dich auch! Als ich ihn in der Ruinenstadt belauscht habe, sagte er, dass er dich in Xi’an getroffen hat. Und jetzt fällt mir noch etwas ein: Der Große, Turdi, sagte etwas von einem Unfall. Könnten sie damit den Mord gemeint haben?«
»Möglich. Was glaubst du, wo Nikolai jetzt ist?«
»Nicht in Deutschland, sonst hätte
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