Die verborgene Botschaft: Roman (German Edition)
außer sich erlebt wie bei ihrem gestrigen Telefonat.
Nikolai angelte sich die Bierflasche und nahm einen tiefen Zug. Was immer Marion vorhatte, er musste äußerst vorsichtig sein, solange er in China war.
* * *
Eine Empfangsdame führte Marion und Yandao zu einem der wenigen freien Tische. Das Restaurant war kurios eingerichtet: Die Wände waren vollständig mit hellem Holz verkleidet; passende Bilder und Modellschiffe ließen auf eine sorgfältige Planung der Ausstattung schließen, die in China selten war. Die Gäste saßen auf glattpolierten Baumstümpfen. Das Beste war allerdings die reich bebilderte Speisekarte, die Marion das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ. Eine Kellnerin in engem Seidenkleid und mit einem fantastischen Haarputz nahm ihre umfangreiche Bestellung auf. Kurz darauf stellte sie einen Teller mit karamellisierten Süßkartoffeln auf den Tisch, und Marion stieß begeistert ihre Stäbchen in die klebrige Masse. Als ihr erster Hunger gestillt war, zog sie ihre Jacke zu sich herüber und zerrte an der Innentasche herum. Li Yandao beobachtete sie gespannt. Endlich hatte sie das Pflaster über dem Reißverschluss gelöst, zog das Kästchen heraus und plazierte es vor ihm.
»Ein Mord, eine Verfolgung um die halbe Welt, zwei Entführungen. Alles wegen dieses kleinen Kästchens. Öffne es«, sagte sie nüchtern.
Das Kästchen, an dessen Existenz er zwischenzeitlich gezweifelt hatte, lag endlich vor ihm. Li Yandao hatte immer noch keine Idee, was sich darin verbergen mochte. Zögernd, als könnte sie vor seinen Augen zu Staub zerfallen, berührte er die kleine Kiste. Sie war real. Er nahm eine Papierserviette und fasste den Deckel mit spitzen Fingern an den Ecken an. Verständnislos sah er auf die Pferdefigur und die Bambustafeln.
»Was ist das? Und warum ist die Skulptur kaputt?«
»Kennst du im Historischen Museum von Xi’an den Raum mit den Schmuckstücken?«, fragte Marion zurück.
»Ich war noch nie in dem Museum.«
»Ist das dein Ernst?«
»Kennst du alle Sehenswürdigkeiten in Hamburg?«, konterte Li Yandao.
»Nein.«
»Siehst du. Außerdem werde ich es morgen Nachmittag sehen. Wir haben einen Termin mit dem stellvertretenden Direktor.«
»Nicht mit dem Direktor selbst?«
»Nein, er ist nicht da. Ausgeflogen nach London zu einer Tagung. Die Europäer sollen die chinesischen Kunstschätze wieder herausgeben, die sie vor hundert Jahren abtransportiert haben.«
»Nach London? Das wäre wesentlich näher gewesen.«
»Aber dann hättest du mich nicht gesehen«, sagte Yandao. »Was ist das nun für ein Pferd? Und wo ist die andere Hälfte?«
»In Xi’an. In einer Vitrine des Museums. Sieh dir dies an.« Marion reichte ihm die Kopie einer Seite aus einem von Professor Kirschners Fachbüchern. Darauf war die andere Hälfte der Figur zu sehen, und in der englischen Bildunterschrift waren alle Fakten aufgeführt.
»Ein Schatz?« Li Yandao ließ das Blatt sinken.
»Vergiss den Schatz, auch wenn ich befürchte, dass die Leute, die hinter der Figur her sind, daran glauben. Das Jadepferd ist unbezahlbar, weil es so alt ist. Eure Historiker werden sich aber viel mehr über die Bambustafeln freuen.«
Sie erklärte Li Yandao, was der deutsche Sinologe herausgefunden und welche Schlüsse er daraus gezogen hatte. Der Kommissar kam aus dem Staunen nicht heraus.
»Eins verstehe ich nicht: Du hast dieses Kästchen so lange behalten. Warum bringst du es jetzt freiwillig zurück?«, fragte er schließlich.
»Es ist mir verdammt schwergefallen. Manchmal hatte ich tatsächlich das Gefühl, dass diese Figur Macht über mich besitzt. Es ist schwer zu glauben, ich weiß, aber wenn ich zurückblicke, frage ich mich, ob ich so an dem Jadepferd festgehalten hätte, wenn ich bei klarem Verstand gewesen wäre. Susannes Entführung hat mir die Augen endgültig geöffnet. Die Figur und die Botschaft gehören nach China.«
Es dauerte über eine Stunde, bis Marion ihm von ihrer Odyssee durch China und bis nach Hamburg erzählt hatte. Li Yandao unterbrach sie immer wieder und ließ sich die Details schildern. Als die Sprache auf Nikolai kam, wurde er hellhörig. Marions Beschreibung des Russen erinnerten ihn an jemanden, aber er suchte in seinem Gedächtnis vergeblich nach einem usbekischen Russen namens Nikolai.
Marion verstummte. Es war befreiend, Li Yandao endlich die Wahrheit gesagt zu haben. Das zerbrochene Pferd war nicht mehr ihr Problem.
»Was für eine wilde Jagd. Du solltest ein Buch darüber
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