Die verborgene Botschaft: Roman (German Edition)
die Polizei ihn aufgestöbert. In Usbekistan? Vielleicht ist er sogar nach China zurückgekehrt, um sich um seine Geschäfte zu kümmern?«
Li Yandao zog sein Handy aus der Tasche und wählte. Er unterhielt sich lange mit der Person am anderen Ende. Marion beobachtete sein ernstes Gesicht. Die Steine kamen ins Rollen.
Li Yandao klappte sein Telefon zu.
»Mein ehemaliger Chef Ling Jiao kann sich ebenfalls an den Russen erinnern. Damals hatte er natürlich einen anderen Namen. Sollte Nikolai, oder wie auch immer er sich gerade nennt, eingereist sein, werden wir ihn finden.«
»Hast du ihm von mir erzählt?«, fragte sie unbehaglich.
»Nur das Nötigste. Mach dir keine Sorgen, ich halte dich aus der Sache raus, soweit es möglich ist, aber solltest du doch weiter mit hineingezogen werden, können wir uns auf Ling Jiao verlassen. Er kennt einige Leute an den richtigen Stellen.«
Er sah auf seine Uhr. »Es ist schon nach neun. Ich kann heute nichts mehr erreichen. Bist du müde, oder hast du Lust auf einen Spaziergang?«
»Beides«, sagte Marion. »Lass uns ins muslimische Viertel fahren und den Erhu-Spielern zuhören.«
Sie parkten den Wagen in der Nähe des Trommelturms. Ein dunkler Tunnel führte vom modernen Zentrum Xi’ans aus durch das massive Fundament des riesigen, in der Ming-Dynastie erbauten Gebäudes in das Labyrinth des muslimischen Viertels. Marion war schon mehrfach hier gewesen, das letzte Mal mit Jenny und Greg am Abend ihrer Ankunft aus Zhangye. Sie liebte die Restaurants, sie liebte die Erhu-Spieler, die sich mit den melancholischen Klängen ihres seltsamen, zweisaitigen Streichinstruments in die Herzen der Passanten spielten, sie liebte die Beiyuanmen mit ihren renovierten alten Häusern und die engen Nebengassen, in denen die Häuser verfallener, aber nicht weniger charmant waren.
Leider hatte die Kälte die meisten Menschen von den Straßen vertrieben, und die mobilen Stände, auf denen sich Berge von getrockneten Früchten und Nüssen türmten, waren verwaist. Tiefhängende Wolken reflektierten die Lichter der großen Stadt und tauchten die Nacht in einen unwirklichen, fahlgelben Schimmer. Es roch nach Schnee und heißen Esskastanien, nach gebratenem Hammel und getrockneten Gewürzen. Marion und Li Yandao setzten sich vor einem der Restaurants an einen Tisch auf dem Bürgersteig und bestellten heißen Tee. Neben ihnen klatschte ein Mann in die Hände, um sich aufzuwärmen. Sein Atem vermischte sich mit den Rauchschwaden, die von seinem Grill aufstiegen. Die Straßenmusiker waren nicht da. Zu wenige Gäste trotzten den Minusgraden, als dass es sich gelohnt hätte, die Instrumente auszupacken.
Der Tee wurde gebracht. Marion nahm den Deckel von der Tasse und blies leicht auf die Flüssigkeit, um die auf der Oberfläche schwimmenden Chrysanthemenblätter auf eine Seite zu treiben. Bedächtig nahm sie den ersten Schluck.
Li Yandao hatte sie die ganze Zeit angesehen. »Du trinkst deinen Tee wie eine Chinesin«, sagte er.
Sie lächelte ihm über den Tassenrand zu, sagte aber nichts. Es war nicht nötig. Sie war glücklich, einfach nur hier zu sitzen, zu spüren, wie sich der heiße Tee in ihrem Magen ausbreitete, und die mittlerweile so vertraute Umgebung zu betrachten. Sie hatte Li Yandao ihre Last übergeben, eine Last, die immer schwerer geworden war, und nun fühlte sie sich leicht, ruhig und mit der Welt im Reinen.
Bis auf die in ihrem Bauch flatternden Schmetterlinge. Sie war sich Li Yandaos Gegenwart nur allzu bewusst. Es knisterte heftig zwischen ihnen, aber Marion traute sich nicht, den ersten Schritt zu machen. Sie hatte sich geirrt, als sie dachte, dass sich ihre Gefühle für den chinesischen Kommissar abgekühlt hatten.
Nach einer Stunde waren sie durchgefroren und erhoben sich von ihrem Tisch, um noch ein wenig in den Gassen umherzuwandern. Bald standen sie wieder in dem dunklen Tunnel unter dem Trommelturm. Am anderen Ende warteten sechs oder sieben junge Chinesen geduldig vor einem einzelnen, beleuchteten Stand. Marion und Li Yandao gesellten sich zu ihnen und stellten sich auf die Zehenspitzen, um über die Schultern der Wartenden zu blicken und herauszufinden, was der ältere Muslim mitten in der Nacht an seinem Stand verkaufte.
Zu beiden Seiten des Mannes stapelten sich hohe Türme von Bambusdämpfern. Gerade stülpte er zwei der Dämpfer vor sich auf die Arbeitsfläche. Eine kreisrunde, weiße Masse fiel heraus, heiß und angenehm süßlich duftend. Mit blitzschnellen,
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