Die verborgene Botschaft: Roman (German Edition)
möchten. Über Deutschland. Über Ihre Reisen. Über sich.« Mit diesen Worten ging er zur Kasse hinüber, um Eintrittskarten für das Mausoleum zu kaufen. Marion folgte ihm ratlos. Sie wurde aus diesem Mann nicht schlau.
Es war wie ein Bild aus Tausendundeiner Nacht: Mit seiner großen Zentralkuppel und vier bauchigen Türmen an den Ecken wirkte das Mausoleum wie eine von einem Kind gezeichnete Moschee. Die grünen und blau-weißen Kacheln der Fassade glänzten in der Sonne, vielfarbige Mosaiken bedeckten das Eingangstor und umrahmten die Fenster. Das Gebäude war weit davon entfernt, perfekt oder gar raffiniert zu sein; alles war ein bisschen schief, als hätten die Erbauer mehr ihrer Intuition als Winkeln und Loten vertraut. Marion fand, dass diese Schludrigkeit zum Charme des Gebäudes beitrug. Es sah aus wie eine mit bunten Scherben verzierte Sandburg.
Sie betraten das Mausoleum. In dem schlichten Raum waren mehrere Generationen einer muslimischen Herrscherfamilie beigesetzt worden, die Sarkophage standen dicht an dicht. Marion fühlte sich zurückversetzt in eine lange vergangene Zeit, als Kashgar von den Khans regiert wurde, die sich den chinesischen Expansionsgelüsten ein Jahrtausend lang widersetzt hatten, bis auch sie sich am Ende dem großen Eroberer Qianlong beugen mussten, der weit im Osten auf dem chinesischen Kaiserthron saß. Während sie an der Absperrung lehnten, erzählte Li Yandao Marion die Legende von Iparhan, der Duftenden Konkubine.
»Sie war die Großnichte von Abakh Hoja, dem Khan von Kashgar, für den dieses Grabmal errichtet wurde. Etwa Mitte des achtzehnten Jahrhunderts hörte der Kaiser Qianlong von Iparhans Schönheit. Die Leute erzählten sich zudem, dass ihre Haut einen betörenden Duft ausströmte. Qianlong wies seine Generäle an, das Mädchen zu ihm an den Hof nach Beijing zu bringen, wo er sie zu einer kaiserlichen Konkubine machen wollte.«
»Rauhe Sitten«, bemerkte Marion.
»Wart ihr in Europa besser?«
»Überhaupt nicht«, gab sie zu.
»Iparhan wurde nach Beijing gebracht. Sobald Qianlong sie zum ersten Mal sah, verliebte er sich unsterblich in das Mädchen aus Xinjiang. Er tat alles, um ihr Heimweh zu mildern, und am Ende erwiderte sie seine Liebe.«
Eine ältere uighurische Frau in westlicher Kleidung, die neben ihnen an der Absperrung stand, unterbrach ihn: »Iparhan hat sich niemals mit ihrem Schicksal abgefunden! Das ist Ihre Wahrheit, aber nicht meine.« Damit drehte sie sich auf dem Absatz um und ging mit schnellen Schritten durch den Rosengarten vor dem Mausoleum auf den Ausgang zu. Li Yandao sah der Frau mit gerunzelter Stirn nach.
»Was meinte die Dame?«, fragte Marion.
»Dass es zwei Versionen der Geschichte gibt: meine und ihre. Die chinesische und die uighurische. Die Uighuren werden sich niemals mit unserer Gegenwart in Xinjiang anfreunden.«
»Erzählen Sie mir mehr.«
»Nein.«
»Warum nicht?«, bohrte sie.
»Weil ich nicht möchte. Es ist ein schwieriges Thema, über das man besser nicht in der Öffentlichkeit spricht.«
Li Yandaos Stimme klang so bestimmt, dass Marion nicht weiterfragte, obwohl es sie ein wenig ärgerte. Aus allem, was sie bisher gehört, gelesen und beobachtet hatte, konnte sie sich vieles selbst zusammenreimen, aber es wäre interessant gewesen, endlich einmal mit einem Betroffenen über die Situation in Xinjiang zu sprechen. Nun, auch das Schweigen des Kommissars war eine Information: Es war offensichtlich nicht angebracht, seine politische Meinung herauszuposaunen.
Etwas später schlenderten sie um das von einer Lehmmauer eingefasste Mausoleum herum. Marion ließ ihre Fingerspitzen über die kühle, bucklige Oberfläche der Kacheln gleiten, von denen nicht eine der anderen glich. Kacheln hatten in dieser Region eine lange Tradition.
»Sie wirken belustigt«, sagte Li Yandao. »Worüber?«
»Ich dachte gerade über Kacheln nach. Was, glauben Sie, würden die Handwerker, die diese kleinen Kunstwerke hergestellt haben, wohl über Kashgars neue Prachtbauten in Hellgelb und Schmutzigweiß denken?«
Der Kommissar sah Marion überrascht an. »Sie machen sich über seltsame Sachen Gedanken«, sagte er. Nach einigem Nachdenken fügte er hinzu: »Es ist gut, dass Sie das neue Kashgar nicht sehen können.«
»Das glaube ich auch.«
Sie gingen schweigend weiter und genossen den friedlichen Nachmittag. Die Stille wurde nur von dem feinen Surren einiger Insekten erfüllt, die einen der letzten schönen Tage des Jahres
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