Die verborgene Botschaft: Roman (German Edition)
entgegnete Batügül und strich sich ungeduldig die Haare hinter die Ohren, »aber ich hasse ihre Politik. Ich hasse es, dass wir, die Uighuren und Kirgisen und wer sonst noch, wie Menschen zweiter Klasse behandelt werden. Ich hasse es, dass wir keine gute Bildung bekommen, und selbst wenn es einer schafft, heißt es noch lange nicht, dass er Arbeit findet. Die Chinesen werden grundsätzlich vorgezogen. Ich habe meine Anstellung im Krankenhaus nur erhalten, weil ich fließend Chinesisch spreche, aber glaub bloß nicht, dass sich das chinesische Personal die Mühe machen würde, unsere Sprache zu lernen, obwohl natürlich die meisten Patienten Uighuren sind.«
Es war, als wäre plötzlich ein Damm gebrochen. Batügül ließ alle Zurückhaltung der letzten Woche fallen und redete einfach weiter.
»Aber Koresh? Obwohl auch er Arzt ist, arbeitet er bei seinem Onkel im Laden, damit wir über die Runden kommen. Sind das genug Gründe, oder soll ich dir noch mehr erzählen? Von Arbeitslagern und Zwangsabtreibungen und …«
Batügül unterbrach sich.
»Ich möchte dich nicht damit belasten. In Xinjiang läuft vieles schief, aber niemand traut sich, den Mund aufzumachen. Aus gutem Grund.«
»Um Himmels willen, das wusste ich alles nicht!«
»Vielleicht ist es auch besser so. Zumindest für deine Sicherheit. Ich finde es schon erstaunlich, dass du dir Xinjiang als Reiseziel ausgesucht hast. Halte einfach die Augen offen und erzähle deinen Leuten zu Hause von uns. Im Gegensatz zu Tibet haben wir nämlich keine Lobby«, sagte Batügül verbittert. »Es strömen immer mehr Chinesen aus dem Osten nach Xinjiang. Unsere Kultur wird einfach geschluckt. Wer nicht in dem großen chinesischen Spiel mitspielt, verarmt.«
»Ist es so schlimm?«
»Ich will fair sein: In den letzten Jahrzehnten hat sich vieles für die Menschen in Xinjiang verbessert. Das Gesundheitssystem ist nicht schlecht, die Lebenserwartung hat zugenommen, mehr Kinder gehen zur Schule. Aber das ist relativ. Die Bedingungen für die Minderheiten sind wesentlich schlechter als für die Han-Chinesen, obwohl wir theoretisch dieselben Rechte haben wie sie. Ich kann es den chinesischen Siedlern nicht verübeln, dass sie ihre besseren Chancen nutzen, wer würde es nicht tun? Viele Chinesen sind der Armut und Arbeitslosigkeit ihrer Heimatprovinzen im Osten entflohen, um sich hier eine neue Existenz aufzubauen. Ob du es glaubst oder nicht, ich habe auch chinesische Freunde, wunderbare Menschen, und die meisten von ihnen haben fürchterliches Heimweh nach Sichuan oder Shaanxi oder Hubei oder nach welcher Provinz auch immer. Es ist hier sehr schwer für sie. Man muss in Xinjiang geboren sein, um es zu lieben.«
»Warum ist die chinesische Regierung denn so versessen auf Xinjiang? Du hast es selbst gerade gesagt: Ein Fremder wird sich hier niemals wohl fühlen können. Als Tourist ein paar Wochen in Xinjiang herumzureisen ist toll, vor allem in den Oasen, aber die Wüste? Keine Pflanzen, keine Tiere … Was wollen die Chinesen hier?«
»Erdöl natürlich und andere Bodenschätze. Außerdem betrachten sie Xinjiang als Puffer zwischen dem Kernland und den zentralasiatischen Staaten. Daran hat sich seit zweitausend Jahren nichts geändert.«
»Von der Seite habe ich es noch nicht betrachtet. Könnt ihr denn nichts unternehmen?«
»Nicht viel. Es mag für dich so aussehen, als sei das Leben in China freier geworden, aber glaube mir: Sollten in Khotan Unruhen ausbrechen, rollen ganz schnell Panzer über die neue Wüstenautobahn. Den einfachen Chinesen geht es nicht besser. Tiananmen kann sich jederzeit wiederholen.« Batügül atmete tief durch und wechselte dann das brisante Thema. »Kannst du mir bitte mit Ahmet helfen?«
Batügül legte ihren Sohn auf die hölzerne Wiege und zurrte ihn mit zwei Gurten so fest, dass er sich nicht mehr rühren konnte. Sein Lachen hellte Batügüls Stimmung wieder auf, und auch Marion hatte sich schnell gefangen. Sie reichte Batügül einen kleinen Gegenstand, der entfernt wie eine Pfeife aussah.
Die pragmatische Art der Uighuren, mit ihren Kleinkindern umzugehen, amüsierte Marion. Der kleine Ahmet trug eine wattierte, im Schritt offene Hose. Sein nackter Po war direkt über einem Loch in der Wiege plaziert, unter dem ein Gefäß stand. Batügül spreizte seine Beinchen und stülpte den Kopf des pfeifenähnlichen Gegenstands über seinen Penis, den Ablauf steckte sie durch das Loch, so dass er ebenfalls auf das Gefäß zielte. Sie
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