Die verborgene Botschaft: Roman (German Edition)
Weltbild nur schwer mit der pragmatischen und selbstbewussten Ärztin in Verbindung bringen, die sich über jede Ungerechtigkeit maßlos aufregen konnte. Eine Kostprobe von Batügüls Temperament hatte Marion bekommen, als sie ihr arglos erzählte, dass sich Li Yandao geweigert hatte, ihr die Reaktion der fremden Frau am Grab der Duftenden Konkubine zu erklären.
»Natürlich, für deinen Kommissar konnte es nicht anders sein«, hatte Batügül zornig geantwortet. »Das kleine Barbarenmädchen entdeckt die Wunder der Zivilisation, der Wildfang wird gezähmt und verliebt sich in den großen Qianlong. Das ist Unsinn. Der Kaiser hat sich in sie verliebt, aber Iparhan hat ihm nicht erlaubt, sie anzurühren. Ihr Heimweh hat sie krank gemacht. Als sie vor die Wahl gestellt wurde, entweder ihren ›Pflichten‹ als Konkubine nachzukommen oder Selbstmord zu begehen, hat sie sich umgebracht. Sie war eine intelligente Frau, die Gedichte verfasste und niemals ihre uighurische Herkunft verraten hätte.«
Wie schon bei Yandao hatte Marion auf Granit gebissen, als sie mehr erfahren wollte. Batügül hüllte sich in Schweigen und ließ auch Marions Frage nach Osmans Verhalten, der ihr nach wie vor aus dem Weg ging und die gemeinsamen Abendmahlzeiten mied, unbeantwortet.
»Danke für den Tee.«
Marion sah hoch. Sie war so in Gedanken versunken gewesen, dass sie Batügüls Kommen gar nicht bemerkt hatte. Batügül schien blendender Laune zu sein.
»Lass uns gleich frühstücken, wir haben einen anstrengenden Tag vor uns.«
»Warum?«
»Wir müssen Brot backen. Und heute Abend gehen wir auf eine Hochzeit in einem Dorf hier in der Nähe. Ich habe schon die passende Kleidung herausgesucht: Ich mache eine Uighurin aus dir, mit bestickter Kappe und einem schönen handgewebten Kleid.«
»Wer heiratet denn?«
»Ich kenne sie auch nicht. Der Sohn einer Freundin der Kusine meiner Mutter, glaube ich.«
»Und du kannst mich einfach mitnehmen?«
»Klar, das halbe Dorf kommt. Mindestens.«
Die Drei-Mann-Band hatte sich warmgespielt. In dem von bunten Lichterketten festlich erleuchteten Hof tanzten die jungen Männer, während die Älteren sie klatschend anfeuerten. Marion stand am Fenster und lauschte den fremden Klängen, die ihr, obwohl sie kein Wort dessen verstand, was der Sänger vortrug, unter die Haut gingen. Mit seiner prächtig dekorierten Rawap, die Marion an eine Mischung zwischen einer Mandoline und einer Geige mit einem extrem langen Hals erinnerte, zauberte der Musiker rechts neben dem Sänger eine sanfte, traurige Melodie, die mit Sicherheit von den Schicksalsschlägen eines tragischen Liebespaares erzählte. Ein bisschen unpassend für eine Hochzeit, dachte Marion, aber schon beim nächsten Lied änderte sich das Tempo: Der dritte Musiker schlug einen schnellen Takt auf seiner Dap, einer flachen, hautbespannten Trommel, schneller und immer schneller. Die Rawap setzte mit einer fröhlichen Melodie ein, und Marion sah den Frühling in Xinjiang, sie sah Felder voller Blumen, hörte das Trappeln von Pferdehufen und das ausgelassene Jauchzen von Menschen, die das Erwachen der Natur nach einem endlosen Winter feierten.
Unwillkürlich trommelte sie den mitreißenden Rhythmus mit den Fingern gegen ihr Glas; am liebsten wäre sie ebenfalls hinaus in den Hof gegangen, aber das schickte sich wahrscheinlich nicht. Sie durfte nicht vergessen, dass dies eine muslimische Hochzeit war, streng getrennt nach Männern und Frauen. Ein wenig neidisch bemerkte sie jetzt, dass auch Koresh tanzte. Er fiel ihr auf, weil er zu den wenigen Männern gehörte, die statt eines Anzugs eine Tracht gewählt hatten. Über einem strahlend weißen Hemd mit weiten Pluderärmeln trug er eine reich bestickte schwarze Jacke mit halblangen Ärmeln. Schon auf der Herfahrt hatte Marion die schönen Applikationen bewundert, komplizierte geometrische Formen in hellen, fröhlichen Farben. Eigentlich wäre eine solche Jacke mehr nach Marions Geschmack gewesen als das ungewohnte Kleid, das Batügül ihr geschenkt hatte. Sie lächelte. Sie war schon auffällig genug in dieser Hochzeitsgesellschaft; wenn sie in Männerkleidung gekommen wäre, hätte es die anderen Gäste wahrscheinlich völlig überfordert.
Großvater Kumran, der mit einigen Graubärtigen abseits stand und sich prächtig unterhielt, hatte sie entdeckt und winkte ihr zu. Marion winkte zurück und wandte sich dann vom Fenster ab. Die Mutter der Braut hielt ihr ein Tablett mit Süßigkeiten unter die
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