Die verborgene Botschaft: Roman (German Edition)
Nase. Dankend nahm sie ein winziges Gebäckstück. Mehr konnte sie nicht essen, ohne zu platzen.
Sich im warmen Haus aufzuhalten war den Frauen vorbehalten. Wenn sich dennoch ein Mann hineintraute, wurde ihm so lange mit spitzen Bemerkungen zugesetzt, bis er sich hastig wieder nach draußen verzog. Fröhliches Stimmengewirr füllte die ineinander übergehenden Räume. Die Mädchen im heiratsfähigen Alter blockierten die Fenster zum Innenhof und kommentierten die Männerauswahl, während ihre Mütter den neuesten Tratsch austauschten. Batügüls Schwester Sodia alberte mit ihren Freundinnen herum. Es erschienen immer neue Besucher, und alle brachten in große Tücher eingeschlagenes Brot mit. Die Frischvermählten würden in den nächsten Monaten garantiert keinen Hunger leiden, dachte Marion und machte sich auf die Suche nach Batügül.
Sie fand ihre Freundin im Gespräch mit einer würdig aussehenden Dame, die ein weißes Kopftuch trug.
»Marion, ich möchte dir meine Tante Aisha vorstellen.«
Marion verbeugte sich vor der Frau, was von den Umstehenden wohlwollend quittiert wurde.
»Tante Aisha ist Hadschin«, sagte Batügül mit leuchtenden Augen. »Das ist ein Ehrentitel. Es bedeutet, dass sie nach Mekka gepilgert ist. Fantastisch, nicht wahr?«
»Es muss ein außergewöhnliches Erlebnis sein.«
»Ja. Vielleicht fliege ich auch einmal dorthin … Aber das hat noch Zeit. Hast du Lust zu tanzen?«
»Da draußen sind doch nur Männer!«
»Na und? Die freuen sich, wenn die Mädchen ihre Burg verlassen.«
Batügül zog Marion in den Hof, und Tante Aisha folgte. Die Männer begrüßten sie enthusiastisch. Also war es wohl doch nicht so streng mit der Geschlechtertrennung, dachte Marion erfreut. Koresh kam auf seine Frau zu und drehte sich vor ihr im Kreis. Batügül antwortete mit anmutigen Schritten. Koresh und Batügül tanzten für sich, und jede der grazilen Handbewegungen, jeder Schritt drückte ihre Liebe füreinander aus. Dabei berührten sie sich nicht ein einziges Mal, denn das wäre unschicklich gewesen. Die anderen Männer hatten sich an den Rand der Tanzfläche zurückgezogen. Dieses Lied gehörte nur den beiden. Anschließend begann ein lebhafteres Stück. Batügül wirbelte herum, die strahlenden Farben ihres Rocks vermischten sich zu einem Kaleidoskop aus Rot und Grün und Kobaltblau, ihre Augen blitzten. Ihre Lebensfreude war ansteckend, und schnell füllte sich der Hof erneut mit Tänzern. Ein junger Mann forderte Marion auf. Tante Aisha machte eine ermunternde Handbewegung. Ihr Fuß wippte im Takt. Marion ließ sich nicht länger bitten.
Der Bann war gebrochen. Die Frauen strömten aus den Zimmern und mischten sich unter die Männer. Aus den Augenwinkeln konnte Marion sehen, dass einige Männer auf die Wohnräume zustrebten. Die Herren der Schöpfung eroberten das Haus zurück, um endlich auch ihren Teil des Festmahls einzufordern.
Batügül hatte einen wunderbaren Abend. Durch die Arbeit im Krankenhaus und ihre Kinder blieb ihr nur wenig Zeit, ihre alten Freundinnen zu treffen, aber heute waren viele von ihnen anwesend. Zum Glück brauchte sie sich nicht um Marion zu kümmern; die Deutsche bewegte sich zwischen den Gästen wie ein Fisch im Wasser und brachte alle mit ihren neu gelernten uighurischen Wörtern zum Lachen. Koresh tanzte und ließ sich nur blicken, wenn er hungrig wurde. Ihre Eltern hatten ebenfalls Freunde getroffen. Der Einzige, der ihr Vergnügen ein wenig trübte, war Osman, ihr geliebter, schlauer, dickköpfiger Bruder. Natürlich war es ein Risiko, Marion zu beherbergen, aber Osmans unhöfliches Benehmen war untragbar. Auch hier hatte er sich, kaum dass sie angekommen waren, wortlos von der Familie getrennt und sich mit einigen jungen Männern in eine ruhige Ecke des Hofs verzogen. Er war so schrecklich verstockt!
Plötzlich wurde es ihr zu eng in dem Raum. Sie entschuldigte sich bei ihren Freundinnen und ging auf den Hof, um frische Luft zu schnappen. Das Fest war noch in vollem Gange, die Musiker und Tänzer wurden nicht müde. Zufrieden ließ sie ihren Blick in die Runde schweifen und entdeckte Marion auf der Tanzfläche. Batügül zwinkerte, aber das Bild blieb dasselbe: Marion tanzte mit Großvater Kumran! Batügül lachte in sich hinein. Das würde Khotan Gesprächsstoff für die nächsten zwei Monate liefern. Mindestens. Doch dann gefror ihr Lächeln. Auf der gegenüberliegenden Seite, lässig an die Hofmauer gelehnt, stand Osman im Gespräch mit einem Mann
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