Die verborgene Botschaft: Roman (German Edition)
ihn zu. Ihre gefährliche Reise hatte die Götter milde gestimmt. Sie zeigten endlich Mitleid mit ihrer Familie.
Turfan
November 2004
M arion biss die Zähne zusammen und kletterte die hohen Stufen hinunter, die aus dem Bus führten. Mit schmerzendem Knie kam sie auf dem Boden an. Wahrscheinlich wäre es tatsächlich besser gewesen, den Tag im Krankenhaus statt im Überlandbus zu verbringen, aber jetzt war sie froh, in Turfan zu sein. Die Stadt, ebenfalls eine Seidenstraßenoase, war lange nicht so abgelegen wie Kashgar oder Khotan. Mit ihren buddhistischen Ruinen, den Flammenden Bergen und der reichen islamischen Geschichte hatte sie sich in den letzten zwanzig Jahren zu einem Touristenmagneten für Chinesen und Ausländer entwickelt, und Marion hoffte, trotz der Nebensaison wieder auf Individualreisende zu treffen, mit denen sie ein paar Tage verbringen konnte. Sie zerrte ihren Rucksack aus dem Bus und hievte ihn auf den Rücken, dann hinkte sie mühsam an den Krücken zu den wartenden Taxis. Gut, dass Taxifahren in China so billig ist, dachte sie.
Der riesige Kronleuchter fiel ihr als Erstes auf. Sie sah sich argwöhnisch in der Eingangshalle des Turfan-Hotels um: weiche Teppiche, eine geschmackvolle Sofaecke, Angestellte in roten Uniformen, ein Café. Betuchte asiatische und westliche Touristen schlenderten durch die Pracht und kauften in einem kleinen Laden überteuerte Keramikkamele und Seidenschals. Eine Wendeltreppe führte in die Obergeschosse mit den Zimmern. Marion fürchtete, einem Druckfehler in ihrem Reiseführer aufgesessen zu sein: Hier konnte sie sich nie und nimmer ein Zimmer leisten.
Sie wollte gerade das Hotel verlassen, als sie einen dunkelblonden jungen Mann am anderen Ende der Halle sah, der sich von den anderen Gästen unterschied. Seine abgetragene Kleidung und der herausgewachsene Haarschnitt verrieten den Rucksackreisenden. Gab es also doch preiswerte Zimmer? Marion humpelte zur Rezeption, wo sie ohne Probleme ein Bett in einem Schlafsaal für fünfundzwanzig Yuan bekam – zwei Euro fünfzig. Sie füllte das Anmeldeformular aus und folgte einer Angestellten in den ersten Stock.
In dem Zimmer standen fünf Betten. Ein Schreibtisch, ein Fernseher und ein schiefer Garderobenständer vervollständigten die Einrichtung. Mehr hätte auch nicht hineingepasst. Die Gänge zwischen den Betten waren so eng, dass sich Marion nur seitlich fortbewegen konnte. Überall lagen Hemden, Hosen und Bücher verstreut. Sie wählte das freie Bett am äußersten Ende des Zimmers und ließ sich auf die weiche Matratze fallen. Das Hotel gefiel ihr. Es war beruhigend, dass sie nicht allein in diesem Raum schlief, und sie war auf ihre Zimmergenossen gespannt. Es würde ihr guttun, ein paar Tage mit westlichen Touristen zu verbringen.
Nachdem sie ihren Rucksack ausgepackt hatte, klemmte sie sich ihre schmutzige Wäsche unter den einen Arm, eine Krücke unter den anderen und fragte eine der Angestellten nach dem Bad. Es verbarg sich hinter einer Sperrholztür, die in das Obergeschoss des angrenzenden Restaurants führte. Die Bewohner des Schlafsaals konnten nicht den Luxus eines eigenen Badezimmers erwarten und mussten sich die Toiletten mit den Restaurantgästen teilen. Marion wusch ihre Sachen im Handwaschbecken und hinkte zurück.
Während sie die halbwegs saubere Wäsche zum Trocknen um das einzige Fenster drapierte, betrat jemand geräuschvoll das Zimmer.
»Sexy Unterwäsche! Trägt ganz entschieden zur Verschönerung unserer Behausung bei«, sagte eine spöttische Männerstimme hinter ihr.
Marion drehte sich um. Es war der junge Mann, den sie in der Hotelhalle gesehen hatte. »Was man von deinen löchrigen Socken nicht behaupten kann«, sagte sie.
»Es war nicht böse gemeint. Wer bist du?«
»Ma Li Huo.«
»Seltsamer Name.«
»Eigentlich heiße ich Marion.«
Der junge Mann machte einen Kniefall und rief entzückt: » Maid Marion! Welch Ehre, Euch in meiner bescheidenen Hütte willkommen heißen zu dürfen! Gestatten: Robert von Locksley. Ihr dürft mich Robin nennen.«
Marion schüttelte amüsiert den Kopf. Eine Menge der Weltenbummler waren ein bisschen verdreht, aber der hier schien ernstlich verrückt zu sein.
»Du siehst so aus, als könntest du Nudeln mit Hammelsoße vertragen«, sagte Robert-Robin. »Ich habe jedenfalls Hunger. Kommst du mit? Jenny und Greg wohnen auch hier. Sie sind schon vorgegangen.«
Jenny und Greg waren die unamerikanischsten Amerikaner, die Marion bisher getroffen
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