Die verborgene Botschaft: Roman (German Edition)
hatte. Beiden fehlte das kantige Kinn. Sie lebten an der Westküste und konnten nicht surfen. Sie liebten Nudeln mit Hammel und hassten Hamburger. Sie waren politisch. Und sie hatten keine Angst vor Muslimen.
Sie passen gut zueinander, dachte Marion. Beide waren schlank und etwa gleich groß. Wie Marion trugen sie die ebenso praktische wie hässliche Uniform aller Reisenden: weite Cargohosen mit Unmengen von Taschen, Fleecejacken in unkleidsamen Farben, auf denen man den Dreck nicht sah, und ausgetretene Wanderschuhe. Als modischen Kontrapunkt hatte Greg ein buntes Bandana um seinen Kopf gewickelt und seinen Bart zu einem blonden Ziegenbart getrimmt, der ihm gut stand. Jenny hatte sehr kurze, rotgefärbte Haare und ausdrucksvolle graue Augen. Marion schätzte, dass die Amerikaner ungefähr so alt waren wie sie selbst.
Es wurde ein langer, lustiger Abend, an dem sie zu viert die Probleme der Welt lösten, die amerikanische Innen- und Außenpolitik in den siebten Höllenkreis verdammten und die deutsche in den fünften, sowie einen Vergleich zwischen norddeutschem Matjes, Forellen aus Oregon und britischem Kipper – Robert hieß zwar nicht Locksley, stammte aber tatsächlich aus Nottingham – anstellten. Naheliegende Themen, wenn man sich zufällig in Zentralasien über den Weg lief. Marion war zu Beginn ihrer Reise oft erstaunt gewesen, wie leicht es war, mit anderen ins Gespräch zu kommen, aber sie hatte schnell gelernt, wie wichtig dieses lose Netzwerk aus Gleichgesinnten war. Erfahrungen wurden bereitwillig ausgetauscht und man half sich notfalls gegenseitig aus der Patsche. Auch wenn es keiner gern zugab: Die anderen ermöglichten es einem immer wieder, Boden unter die Füße zu bekommen, wenn man sich in der fremden Kultur verlor.
Robert hatte die Amerikaner in Tibet kennengelernt, und sie waren seitdem gemeinsam unterwegs. Bald würden sie allerdings wieder getrennte Wege gehen; Jenny und Greg wollten nach Dunhuang, Robert zog es nach Kashgar.
Den Bauch voller jiaozi, chinesischer Ravioli, lehnte sich Marion zufrieden zurück.
»Bist du schon lange unterwegs?«, fragte sie Robert.
»Etwas länger als ein Jahr. Die meiste Zeit davon in Indien. Merkt man das nicht?«
»Wenn du die Wahrheit verträgst: Man merkt es.«
»Und woran?«
»Weil … weil …«, druckste Marion herum.
»Weil er völlig durchgeknallt ist«, soufflierte Jenny trocken. »Aber nett verrückt. Er wird uns fehlen.«
»Danke«, sagte Robert. »Und was ist mit dir, Maid Marion? Von welchem Kreuzzug kommst du gerade?«
»Ich hatte einen Busunfall.«
»Machst du Witze? Wann und wo?«
»Vorgestern Nacht auf der Trans-Taklamakan-Autobahn.«
»Und sie haben dich so schnell wieder aus dem Krankenhaus entlassen?«
Marion ließ die Frage unbeantwortet im Raum stehen. »Was haltet ihr davon, morgen eine Tour zu den Sehenswürdigkeiten in der Umgebung zu machen?«, lenkte sie ab. »Wir können uns die Minibusmiete teilen, so wird es für alle billiger.«
* * *
Am Abend des nächsten Tages hinkte Marion in Badelatschen und mit einem Handtuch um den Körper geschlungen quer durch die Eingangshalle des Hotels und hinterließ eine nasse Spur. Wegen der Krücken hatte sie ihren Waschbeutel zwischen die Zähne geklemmt. Freundlich nickte sie den verwunderten Gästen zu. Sie kam von der öffentlichen Waschanstalt am hinteren Ende des Hotelparkplatzes. Eine Dusche war für die Gäste aus den Schlafsälen nicht vorgesehen, was Marion gleichgültig war, solange eine Waschgelegenheit im Umkreis von fünfhundert Metern zur Verfügung stand.
Jenny und Greg waren schon ausgegangen, als Marion den Schlafsaal betrat. Die Amerikaner wollten den Abend allein verbringen, nachdem sie den ganzen Tag zu viert unterwegs gewesen waren. Marion hatte die Tour sehr genossen und sich regelrecht befreit gefühlt, als sie mit dem Minibus von einem interessanten Ort zum nächsten kutschiert wurden – Kashgar, Khotan und ihre Verfolger waren über tausend Kilometer entfernt.
Robert saß auf seinem Bett, kaute Sonnenblumenkerne und versuchte, der chinesischen Volksseele mit Hilfe des Werbefernsehens auf den Grund zu gehen. Seine Theorie war, dass die Chinesen entweder samt und sonders krank oder Hypochonder waren. Oder beides. Als Beweis führte er an, dass drei Viertel der Werbezeit Pillen, Kräutern und Hustensäften gewidmet wurde. Gerade war ein dicker Mann in einem giftgrünen Strampelanzug zu sehen, der mit irrem Gesichtsausdruck in einem
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