Die verborgene Botschaft: Roman (German Edition)
vorbeiging. In diesem Moment sah sie den Russen.
Die chinesische Reisegruppe hatte die Sicht auf die beiden Männer verdeckt, die in der Nähe des Ausgangs saßen und sich aufgeregt unterhielten. Marion versteinerte. Warum hatte sie diese Möglichkeit nicht einkalkuliert? Ihre Verfolger waren ebenfalls hungrig – sie hatten genauso wenig Zeit zum Essen gehabt wie sie selbst. Sie wollte sich gerade umdrehen und zurückgehen, als der Russe sie bemerkte. Er sah sie kurz an, dann redete er weiter auf den Uighuren ein. Marion schlug die Augen nieder. Wenn sie jetzt umkehrte, würde er misstrauisch werden. Der Weg nach draußen führte direkt an ihm vorbei. Ihre Hände zitterten, als sie sich bückte und so tat, als würde sie sich an ihrer Tasche zu schaffen machen. Sie brauchte einen Augenblick, bis sie ruhig genug war, um ihren Weg fortsetzen zu können.
Jeder Schritt erforderte ihre ganze Willenskraft. Sie schwitzte so sehr, dass ihr die Kleidung am Körper klebte. Noch vierzehn Schritte. Noch dreizehn. Zwölf. Die geraden Zahlen taten weh wegen des Knies. Elf. Aus den Augenwinkeln konnte sie sehen, wie der Russe sie musterte. Zehn. Neun. Acht. Sieben. Sechsfünfvierdreizweieins. Sie hastete aus der Tür und fiel beinahe die Stufen zum Vorplatz hinunter.
»Taxi?«, fragte einer der Fahrer.
»Daheyan.«
Der Mann nahm ihr die Tasche ab und legte sie in den Kofferraum. Marion knallte die Beifahrertür hinter sich zu. Sie hatte es tatsächlich geschafft.
Das Haus auf der Klippe
September 134 n.Chr.
D ie angeschlagenen Tontöpfe polterten den Steilhang hinunter, bis sie gegen einen Steinbrocken schlugen und zerbrachen. Zheng spähte über den Rand der Klippe und beobachtete zufrieden, wie ein Schauer von Tonscherben, vergammelten Kräutern, Knöchelchen, getrockneten Schlangen und Skorpionen in die Schlucht regnete. Dies war der letzte Abfall: Es hatte den ganzen Tag gedauert, das Haus von all dem Unrat zu säubern, der sich in den Jahrzehnten, in denen es leer stand, angesammelt hatte. Das Haus sei verhext, hatten seine neuen Nachbarn ihn gewarnt, der Geist des alten chinesischen Arztes würde nachts umgehen und jeden neuen Bewohner vertreiben.
Zheng wischte die Hände an seinem Hemd ab und hockte sich vor seinem Haus auf den Klippenrand.
Er hatte keine Angst vor dem Geist des Toten. Seine zehn Jahre als Soldat hatten ihn gelehrt, die Lebenden zu fürchten. Aber diese Zeit war vorbei: Gestern war er aus der Armee entlassen worden, und er war frei zu gehen, wohin er wollte. Seine Kameraden waren erstaunt, als er ihnen eröffnete, dass er in Yar-Khoto bleiben wollte. Die meisten von ihnen planten, in ihre Heimatdörfer zurückzukehren, sobald es ihnen erlaubt wurde.
Zheng blickte über die dicht bewachsene Schlucht hinweg, die zweimal so tief war wie die höchsten Pappeln. Weit im Westen schwebten braune Hügel wie eine Luftspiegelung über dem flimmernden Wüstenboden. Im Gegensatz zu seinen Kameraden war Zheng von der Wüste fasziniert. Sie hatte nichts Bedrohliches, und selbst die monatelangen Wachen in den Außenposten bargen für ihn keinen Schrecken. Er liebte die absolute Stille, die sich nach Einbruch der Dunkelheit über die Wachttürme senkte, und er hatte die Nächte oft damit verbracht, den Lauf der Sterne zu beobachten.
In den vergangenen zehn Jahren war Zheng in vielen Oasenstädten stationiert gewesen, aber Yar-Khoto mochte er am liebsten. Die Stadt lag auf einem hohen, von zwei Flüssen begrenzten Plateau, inmitten fruchtbarer Felder. Die Ernten waren gut und versorgten die sieben- oder achttausend Zivilisten und Soldaten der Stadt mit Getreide, Früchten und Gemüse; und die Händler wurden durch die regelmäßig erscheinenden Karawanen reich. Die Einwohner Yar-Khotos waren den Chinesen wohlgesinnt, und die Xiongnu verhielten sich ruhig. Viele Jahre hatte Zheng damit verbracht, die Bewohner der Oase gegen die Angriffe der Barbaren zu verteidigen, jetzt würde er selbst einer der Beschützten sein.
Von seinem Sold hatte er genug gespart, um sich damit ein neues Leben aufzubauen. Sobald das kleine Haus an dem Steilhang repariert war, würde er alles daransetzen, reich und geachtet zu werden, damit er eine Familie gründen konnte. Hier, in den Außenposten des Chinesischen Reichs, interessierte sich niemand für seine Herkunft. Alles war möglich. Mit seinen sechsundzwanzig Sommern war er jung genug, um seine ehrgeizigen Ziele verwirklichen zu können. Er fühlte sich stark und gesund.
Zheng
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