Die verborgene Botschaft: Roman (German Edition)
hätte sich den Weg gern erspart, aber sie musste sich davon überzeugen, dass der Russe und der Uighure tatsächlich dort waren. Sie vermutete, dass der Uighure der Mann mit dem orangefarbenen Schal war, aber sie hatte keine Ahnung, wie der Russe aussah. Es gab nur eine Möglichkeit, es herauszufinden: Sie musste seine Stimme hören. Wie sie das anstellen sollte, wusste sie noch nicht, aber Marion vertraute auf ihre Intuition. Sie stützte sich schwer auf ihre Krücken, zog ihr Bein übertrieben stark nach und durchquerte die Halle. Der Zustand ihres Knies hatte sich ungeachtet der Kälte weiter verbessert, aber ihr lag daran, den Eindruck einer Invalidin zu machen.
Sie grüßte mehrere Gäste und ließ sich auf einen Small Talk mit einem älteren Deutschen ein. Während er in einer Beschreibung der Wunder Turfans schwelgte, suchte sie mit den Augen die Halle ab. Auf einem der Sofas in der Nähe der Rezeption entdeckte Marion einen blonden Mann mit slawischen Gesichtszügen. Sie verabschiedete sich von dem Deutschen und strebte auf die Rezeption zu, ohne den Blonden zu beachten.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte die Rezeptionistin in fehlerfreiem Englisch. Das Turfan-Hotel hatte viele internationale Gäste.
»Ja. Ich möchte nur noch für eine weitere Nacht bezahlen. Morgen fahre ich zum Himmelssee.«
»Am Himmelssee schneit es bald. Wollen Sie wirklich dorthin?«
»Die Kälte macht mir nichts aus. Ich habe warme Kleidung dabei.«
»Ich würde im Winter nicht in die Berge fahren. Fünfundzwanzig Yuan, bitte.«
Marion reichte der Frau das Geld.
»Ich habe noch eine Frage«, sagte sie dann. »Ich vermisse mein Armband. Es ist nicht wertvoll, aber ich hänge daran. Das Zimmer habe ich bereits auf den Kopf gestellt, und dann fiel mir ein, dass ich gestern Vormittag in der Sitzecke gelesen habe. Vielleicht ist es mir dort vom Arm gefallen. Hat das Reinigungspersonal es eventuell gefunden? Das Armband ist aus Silber mit kleinen Jadeperlen.«
»Ich schaue nach.« Die Chinesin durchwühlte eine der Schubladen. »Ein Ring, ein Schal. Zwei Bücher. Eine Unterhose? Also, was die Leute alles vergessen … Nein«, sagte sie und schob die Schublade zu, »Ihr Armband ist nicht hier. Aber es kann auch zwischen die Polster gerutscht sein. Lassen Sie uns nachsehen.«
Sie kam um den Tresen herum und ging auf den blonden Mann zu. Marion folgte ihr. Es lief besser, als sie zu hoffen gewagt hatte.
Der Blonde sah die beiden Frauen für den Bruchteil einer Sekunde ungläubig an, dann fing er sich wieder und setzte eine unbeteiligte Miene auf.
»Darf ich Sie bitten, ein wenig zur Seite zu rücken?«, sagte die Rezeptionistin zu ihm und fuhr gleich darauf mit der flachen Hand in die Polsterritzen.
»Suchen Sie etwas Bestimmtes?«, fragte der Mann.
Marion erkannte die Stimme sofort. Der Akzent hatte sich in ihr Gedächtnis gebrannt. Sie erklärte ihm, dass sie ihr Armband verloren habe, und prägte sich sein Gesicht ein: ozeanblaue Augen, blonde Wimpern und Augenbrauen, sehr helle Haut. Zwei scharfe Linien liefen von seiner Nase zu dem schmalen Mund, dessen Mundwinkel arrogant nach oben gebogen waren. Ein schlanker, drahtiger Körper in einem teuer aussehenden grauen Rollkragenpullover, der die Blässe des Mannes noch unterstrich. Er war etwa Mitte vierzig. Ein ausgesprochen attraktiver Mann, wie Marion fand.
Die Rezeptionistin hatte sich auf die Knie niedergelassen und spähte unter das Sofa. Nach kurzer Suche stand sie auf und sagte bedauernd zu Marion: »Es ist nicht hier. Vielleicht finden Sie ja ein ähnliches Armband drüben am Souvenirstand.«
»Ich werde mir die Sachen anschauen. Haben Sie vielen Dank.«
Die Rezeptionistin lächelte freundlich und begab sich wieder zum Tresen, wo sich schon einige ungeduldige chinesische Touristen versammelt hatten.
Marion streckte dem Blonden ihre Hand entgegen. »Mein Name ist Marion. Entschuldigen Sie die Störung.«
Der Mann war überrumpelt. Er schüttelte ihre Hand und antwortete: »Nikolai. Angenehm, Sie kennenzulernen.«
»Das Vergnügen ist ganz meinerseits«, sagte Marion und strahlte ihn an. »Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.«
Damit drehte sie sich um und hinkte auf die Treppe zu. Am liebsten hätte sie laut losgelacht. Es war so leicht gewesen!
Im Schlafsaal schob Marion sicherheitshalber eines der Betten vor die Tür. Eine Karriere als Möbelpackerin erschien ihr mittlerweile ebenso wahrscheinlich wie die einer Klempnerin. Dann legte sie sich hin, um
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