Die verborgene Botschaft: Roman (German Edition)
Nacht über hatte sich der Alte hin und her gewälzt, bis der Schlaf ihn in den eiskalten Stunden vor der Dämmerung vollends verlassen hatte. Der Alte hatte sich zitternd in seine Decken gewickelt und auf den Morgen gewartet, als ein lautes Poltern und streitende Stimmen aus dem Nachbarhaus ihn aufhorchen ließen. Kurz darauf erklang ein schriller, unirdischer Schrei, der den Alten mit Grausen erfüllte: Der Geist des Arztes war über den tapferen Soldaten gekommen. Der Alte hatte sich mit dem festen Vorsatz aufgerichtet, nach dem Rechten zu sehen, aber seine Beine versagten ihm den Dienst, und so blieb er, wo er war. Seine Familie hatte nichts gehört, niemand rührte sich.
Er klopfte, fester diesmal, und die Tür gab nach. Ein Streifen Tageslicht fiel durch die Türöffnung auf die leblose Gestalt des Soldaten. Eine Blutlache hatte sich um seinen Oberkörper gebildet. Als der Alte die Tür noch weiter aufstieß, huschte eine Ratte in die dunklen Tiefen des Hauses. Die armseligen Besitztümer des Mannes waren im Raum verstreut: eine Satteldecke, geflickte Kleidung, Kochgeschirr und die Decke, die er vorgestern Abend herausgebracht hatte. Das einzig Schöne, was er besessen hatte, ein bestickter Filzteppich, war jetzt mit dem Blut besudelt.
Der Alte wandte sich traurig ab. Der Soldat hätte die Geister nicht herausfordern dürfen.
Zhangye
November 2004
D as Zugabteil glich einem Flüchtlingslager. Taschen und Menschen füllten jeden Quadratzentimeter des Waggons aus. Mindestens drei Dutzend identischer karierter Taschen lugten unter den Sitzbänken hervor oder lagen in den Gepäcknetzen.
Marion hatte den mittleren Sitz auf einer schon für zwei Personen unbequemen Dreierbank reserviert; trotzdem hatten sich vier Studenten daraufgequetscht und spielten mit ihren Freunden auf der gegenüberliegenden Bank Karten. Die jungen Männer nahmen keine Notiz von der ohrenbetäubenden Kakophonie aus heulenden Kindern, keifenden Großmüttern, streitenden Paaren und spuckenden Opas, die jede normale Unterhaltung unmöglich machte. Marion tippte einem der jungen Männer auf die Schulter.
»Ich muss hier auch noch hin.«
Nachdem sie ihre Fahrkarte geprüft hatten, schoben die jungen Männer bedauernd die Karten zusammen und gaben Marions Sitz frei.
Die Verbliebenen machten Marion höflich Platz, und ihr Sitznachbar hob ihre Tasche ins Gepäcknetz. Die jungen Leute waren über ihre exotische Abteilgenossin entzückt und überboten sich darin, ihr Nüsse, Sonnenblumenkerne und getrocknete Aprikosen anzubieten. Obwohl ihr diese Aufmerksamkeit lieber war als das Desinteresse und die Sturheit der Chinesen alter Schule, war Marion froh, als die Studenten ihren englischen Wortschatz erschöpft hatten und sie keine weiteren Fragen über ihr Woher und Wohin zu beantworten brauchte.
Es würde eine unbequeme Nacht auf der harten Bank werden, und über den Zustand der Toiletten machte sich Marion keine Illusionen. Doch das war nicht wichtig. Sie war ungesehen und vor allem unbeschädigt aus Turfan herausgekommen, nur das zählte. Mit jeder Minute wurde die Entfernung zwischen dem gefährlichen Russen und ihr größer.
Mitten in der Nacht wachte Marion hustend auf. Sie schwitzte und hatte Fieber, was nach ihrem Zwangsaufenthalt in dem Loch in Yar-Khoto kein Wunder war.
Der Kopf des jungen Mannes neben ihr war auf ihre Schulter gesunken. Sie schob ihn vorsichtig fort. Der Junge grunzte im Schlaf, wachte aber nicht auf. Marion erhob sich leise. Der Mittelgang war mit schlafenden Menschen verstopft, die alte Säcke und Pappen auf den mit Obstschalen und Spucke bedeckten Fußboden gebreitet hatten. Ein kleiner Junge lag auf dem Rücken unter einer Bank, sein Kopf ragte in den Gang. Das Gesicht war schmutzverkrustet, und seine dicken Haare standen in alle Richtungen ab. Den rechten Arm hielt er angewinkelt über der Stirn, die Hand entspannt geöffnet. Eine Kakerlake lief mit nervös wippenden Fühlern über seine Brust. Marion verscheuchte das eklige Insekt. Der Junge rührte sie. Was mochte das Leben für ihn bereithalten?
Die sanitären Einrichtungen waren so erschütternd, wie Marion es sich ausgemalt hatte. Mit Todesverachtung schloss sie sich in der Kabine ein und hockte sich über das Loch im Boden. Als sie sich wieder aufrichtete, wurde ihr schwarz vor Augen, und sie klammerte sich schwankend an den Fensterrahmen. Sie war eindeutig krank und brauchte dringend ein richtiges Bett und vierundzwanzig Stunden Schlaf. Und – wenn
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