Die Verborgene Schrift
wenig gesprochen, einzig Désirée und Virginie plauderten zusammen. Einmal wurden die Damen angehalten, weil die französischen Wachen das Elsässisch vom Salmele und der Kleinen für Feindessprache hielten, erst Füeßlis Dazwischenkunft gelang es, die Sache zu ordnen. Später wieder mußten sie aussteigen und in einem schmalen Tunnel die Vogesen zu Fuß durchqueren, weil die Straße durch herausgerissene Telegraphendrähte unüberfahrbar war. Die Frauen gingen allein, während Pierre mit den Reisegehilfen ihnen auf großen Umwegen die Wagen entgegenführte. Unsäglich verlassen kamen sie sich plötzlich vor, so im Dunkel unter dem Gebirge hintappend, eng an die Wände gedrückt, einer hinter dem andern. Das Kind weinte, Schwefel- und Kohlenstückchen wurden ihnen von begegnenden Lokomotiven entgegengeschleudert, das Salmele war voll abergläubischer Visionen, im Stockdunkeln fuhren Züge an ihnen vorüber, die schrien. Diese Schreie zerrissen die Finsternis wie Dolche. Endlich drüben, vom Tageslicht noch geblendet, sahen sie Pierres Gestalt, ruhig, sogar ein wenig behäbig vom Wagen steigen und auf sie zukommen.
»Dieu soit béni,« sagten sie alle zu gleicher Zeit. Man hatte das Gefühl, nun sei alles gut. Die Pferde am Wagen zitterten und mußten noch ein wenig ruhen. Pierre hatte sie gejagt über ihre Kräfte.
Die Reise ging weiter. Das Rütteln des Wagens, der Regen, der an die Scheiben wusch und die Landschaft verhüllte, alles war einschläfernd und verhinderte das Denken.Und dann war man in Gérardmer. Man trennte sich in Eile, fast wie auf der Flucht voreinander. Schon im Begriff, zu Pierre und den beiden anderen Herren einzusteigen, wurde Françoise von einer plötzlichen Angst gefaßt. Sie stieg noch einmal aus, umarmte Hortense und riß die kleine Désirée zu sich herauf, sie in Küssen fast erstickend.
»Mein Sohn wird Franzose sein, er wird Franzose sein,« wiederholte Hortense ein paarmal. Als solle darin ein Trost liegen für das Leid aller.
Die Fahrt ging rasch. Françoise war so übermüdet, daß sie meist schlummerte, in die Ecke gedrückt, die man ihr wohnlich gemacht hatte. Auf das, was draußen vorbeiglitt, achtete sie wenig.
Es ging durch Wald, immer die bewachte Straße entlang. Man gewöhnte sich an die Soldaten. Einmal sah sie lange einen Burschen, der vor ihnen herlief, immer in gleichem Abstande, seine weiß bestaubten Sohlen schlugen ihm regelmäßig, wie die Schaufeln eines Mühlrads, an die Hosen. Dann wieder Regen. Nasse Fahnen in ausgestorbenen Dorfstraßen, die irgendeinen erfundenen Sieg feierten. Ihre Gefährten unterhielten sich mit leiser Stimme darüber.
Die Wegs wurden schlecht. Pierre ordnete an, man solle suchen die Bahnstrecke zu erreichen, die unter deutscher Militäraufsicht jetzt wieder ausgebessert war, so daß Züge gehen konnten.
Aber es gab überall Aufenthalt. Man begegnete Artilleriereserven. Die Pferde kamen auf dem schlüpfrigen Boden nur langsam und ruckweise von der Stelle, sie stießen fortwährend aufeinander, in Gefahr zu fallen. Alle todmüde. Zu gleicher Zeit drängte, die Geschütze überholend, ein Zug Infanterie vorbei, Munitionswagen, Trainfuhrwerke, Postwagen, Lastkarren aller Art, die sich unabhängig voneinander weiterschoben. Bald marschierten sie gleichzeitig an, bald hielt die eine Reihe inne, die andere marschierte weiter. Das Ergebnis war ein heillos undurchdringlicher Wirrwarr. Niemand rückte von der Stelle. Die Offiziere mit ihren Kalpaks aus Biberfell und riesigen. Kragenmänteln waren von ihren großen Pferdenabgestiegen, sie am Zügel führend. Die schlecht gegurteten Sättel rutschten, da sie wieder aufsteigen wollten.
Pierre war außer sich über den Anblick. Er schämte sich. »Was? keine Anweisung scheint gegeben, keine Ordnung eingehalten, einem Teil gefällt es zu halten, er versperrt den Nachfolgenden den Weg. Sehen Sie, Mademoiselle Balde – Madame Füeßli,« verbesserte er sich und sah sie lächelnd an – »sehen Sie jenen Reiter, dessen Pferd glaubt jagen zu müssen, weil sein Reiter im Schlaf vornüberstößt!« Er trat voll Ungeduld auf den Boden des Wagens.
Und immer phantastischer wurde die Reise. Jetzt, da die Dunkelheit hereinbrach, sah man auf allen Höhen und in den Tälern Biwakfeuer. Sie schienen sich ins Unendliche zu dehnen. Françoise, vor deren Augen aus Schlafsucht die Umrisse verschwanden, glaubte eine große, große Stadt zu sehen mit da und dort brennenden Häusern. Da die Nacht kalt war, hatte
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