Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Verborgene Schrift

Titel: Die Verborgene Schrift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anselma Heine
Vom Netzwerk:
Trümmerhaufen. Er zeigte keine Verwundung. Als er wieder zu sich kam, merkte man, daß er am Verhungern stand. Gespeist und gedrängt zu berichten, sagte er: »Ich stand Ehrenwache vor dem Hause unseres Generals. Es ist abgebrannt. Man hat vergessen, mich abzulösen.«
    Einmal beim Bettenrequirieren gerieten sie in große Gefahr. In einem Häusergrüppchen am Wege, das sie absuchten, verbargensich französische Soldaten in Frauenkleidern, andere lagen unter den Betten und schossen auf sie, sobald sie das Zimmer betraten. Françoise erhielt einen Streifschuß am Ohr. Mit der Binde um den Kopf sah sie aus wie ein junger Krieger.
    Seit diesem Ereignis sorgte Pierre für Begleitung deutscher Soldaten als Bewachung.
    Das brachte eine sonderbare Begegnung für Françoise, die sie tief erregte. Zum Wagen hinausblickend, sah sie ein bekanntes Gesicht: der pommersche Offizier, der am Grabe der Mutter aus der Bibel gelesen hatte. Das beschwor fürchterliche Erinnerungen aus ihr herauf! »Wahrlich, ich sage euch, es ist niemand, der sein Haus verlasset oder Eltern oder Brüder oder Weib oder Kinder um des Reiches Gottes willen, der es nicht vielfältig wiederempfahe in dieser Zeit, und in der zukünftigen Welt das ewige Leben.«
    Wie in etwas Grauenhaftes hinein starrte sie in das braune, einfache Gesicht des jungen Soldaten.
    Und sie, die ekle Wunden ohne Zaudern berührt, Tod und furchtbarste Verwüstung gesehen hatte, sie fiel plötzlich in eine tiefe, schwere Ohnmacht, aus der sie lange nicht zu wecken war. – –
    Am selben Tage noch brachte Pierre sie in das Kloster Sainte Anne, zwischen Nancy und Toul. Dort wollte er sie später zur Heimreise abholen.
     
    In den blühenden Höfen des Klosters Sainte Anne, das unweit Toul in einem hohen Park mit uralten dunklen Bäumen und blinkenden Fischteichen lag, huschten und zeterten die Nonnen ratlos umher. Wie ein Schwarm großer schwarzweißer Vögel ließen sie sich dann zwischen ihren Oleanderkübeln und grell beblumten Granatbüschen nieder, flatterten Obstbaumgänge und Traubenlauben entlang, mechanisch-genäschig dabei das Abfallobst auflesend und benagend oder die noch an den Zweigen hängenden unreifen Früchte befühlend. Ab und zu wischten sie sich in der Schwüle dieses bangen Septembermorgens den Schweiß von den verängsteten Gesichtern und horchten, die Hand am Ohr, nach Toul hinaus.
    Seit dem 19. August war die Stadt von den Preußen eingeschlossen. Seitdem hatte man immer wieder den nahen Kanonendonner der Beschießung gehört, mehr als einen Monat schon. Heute hat es ohne Aufhören gedröhnt dadrüben. Lauter und heftiger als je. Gleich nach der Neun-Uhr-Messe hatte es begonnen und in gleicher Stärke angedauert bis zur Vesperandacht eben jetzt. Man hatte wohl hinausgehorcht, hatte vielleicht auch ein Gebet mehr zum Himmel hinaufgeschickt für die armen Belagerten dadrüben, sonst aber war man im Hause, Garten und in den Wirtschaftsgebäuden seinen Geschäften nachgegangen, hatte gejätet, gestickt, gebraten, gebacken und neben dem Knecht am Ziehbrunnen gestanden und geschwatzt, wahrend man die Krüge füllte. Dann aber – halb sechs Uhr – war es geschehen! Etwas Unerwartetes, Furchterregendes, das keinen Namen hatte. Jede fühlte es sogleich, wo immer sie sich befand, und woran immer sie hantierte, hielt mit weitaufgerissenen erschreckten Augen inne, lief dann zu einer Schwester, die wieder zu andern Schwestern lief, bis man beisammen stand. Man sprach nicht, man stand nur und lauschte auf diese plötzliche, unheimliche Stille, die wie ein Ruf wirkte. Und dann wandten sich alle Augen zu dem gelben, langgestreckten Hause zurück, aus dem die Frau Mutter zu ihnen treten sollte.
    Endlich kam sie, eine blasse, kränkliche, schon bejahrte Gestalt, zart in ihrer weiten, groben Kutte, in der sie steckte wie in einer bereits abgestreiften Hülse. Schon von weitem hob sie die Arme. Alle drängten hinzu. Und da erfuhren sie's dann: Toul hatte sich ergeben. Diese schrecklichen Prussiens drangen vor, immer weiter vor. In Nancy saßen sie ja schon fest. Seit Wochen. Auch bis nach Sainte Anne würden sie kommen. Hierher ins Kloster.
    Die kleine Dame hatte mit schwacher, aber pathetischer Stimme gesprochen. Eine Art Gemeinschaftsschrei antwortete ihrer Rede. »Nach Sainte Anne?« Die Oberin nickte.
    Ja, sie würden kommen, mit ihren groben, kotigen Stiefeln würden sie durch diese blühenden, fruchtbeschenkten Laubgängestampfen. Alles nehmen, was ihnen gefällt, alles

Weitere Kostenlose Bücher