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Die Verborgene Schrift

Titel: Die Verborgene Schrift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anselma Heine
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stark, diese bürgerliche Ordnung, sogleich nach der mörderischen Zügellosigkeit der Schlacht. Sehen Sie, die Pferde selbst scheinen die Ordnung zu achten. Sie liegen, obgleich in Freiheit, in den richtigen Entfernungen voneinander ruhig da und haben Vertrauen, ganz wie ihre Herren.«
    Der eine der Gehilfen stieß eine Verwünschung aus: »Warum loben Sie unsere Feinde, Madame Füeßli?«
    »Um uns zu trösten,« sagte Pierre rasch. »Man muß seinen Gegner erhöhen, um sich nicht erniedrigt zu fühlen, wenn man einmal von ihm besiegt wird.«
    Françoise sah ihn ernsthaft an: Sagte er das um ihretwillen? Wußte er? Aus irgendeinem Grunde verhärtete sie sich gegen ihn.Ein Stoß, der den ganzen Wagen erschütterte, machte allem Gespräch ein Ende. Die Männer mußten aussteigen, das Hindernis – einen umgefallenen Baum – wegzuschieben. Dann war man wieder im Geleise. Françoise hatte inzwischen für Nahrung gesorgt. Rotwein, Huhn und Biskuit. Einmal blickte Pierre, während er sein Glas an den Mund setzte, flüchtig zu Françoise hinüber. »À votre santé, ma femme.« Sie senkte die Augen.
    Jetzt gelangte man an eine von den Deutschen ausgebesserte Bahnstrecke, die schon wieder betriebsfähig war. Nach vielen und lange dauernden Verhandlungen bekam Pierre die Erlaubnis, seinen Samariterwagen in den Zug einzustellen.
    Auf dem Bahnhof des nächsten Stadtchens war ein wüstes Gewirr. Landleute mit Frau und Kindern und Gepäckstücken, die – sie wußten selber nicht wohin wollten. Deutsche Soldaten, verwundete Nachzügler, einige Offiziere in Regenmantel, mit umgehängter Feldflasche, Menschen aller Art, die einen am Boden ausgestreckt, die andern auf ihren Gepäckstücken liegend oder sitzend, etliche trotz des Lärms friedlich schlafend. Männer in blauen Uniformen mit Pickelhauben gingen umher und ordneten durch ein paar Handbewegungen sehr schnell das Chaos. Eine Gasse wurde freigemacht. Marschgeräusch wurde laut, sonderbar ungleichmäßig. Zwischen den gewichtigen taktsicheren Schritten der Prussiens ein Schlürfen, Zögern und Schleifen. Zuerst sieht man nur die Deutschen, Dragoner und Husaren mit gespannten Karabinern, dann in der Mitte eine arme Herde, nachlässig, niedergeschlagen. Gefangene Franzosen.
    Françoise schrie laut auf. Pierre nahm ihre zitternde Hand in die seine. Auch er sah finster aus. Die Menge murrte. Man sah alte Soldaten mit weißen Schnauzbärten, bemüht, sich würdig zu halten. Zwischen ihnen die glattwangigen Neuinskribierten, denen die bitteren Tränen übers Gesicht liefen.
    Eine alte Frau, die weiße Lothringer Haube hoch über dem Gesicht, stieß Françoise vertraulich an und sprach in ihrer Mundart aufgeregt in sie hinein. Andere redeten hinzu. Françoiseverstand, daß man im Volk verbreitet hatte, diese Leute da seien gar nicht etwa gefangene Franzosen, es seien das alles verwundete und kranke Preußen, denen man französische Uniformen angezogen habe, um dadurch der grande nation den Glauben beizubringen, Preußen habe so viele Gefangene gemacht...
    Man hatte im Städtchen übernachten wollen und sich ausruhen, aber alles war überfüllt, kein freies Plätzchen zu bekommen. So richtete man sich wieder im Wagen ein.
    Es folgten Tage rastloser Arbeit. Überall gab es zu helfen, fürchterliche Leiden zu lindern. Not und Blut, wohin man kam. Unausgesetztes Pflichtbewußtsein, Anstrengung, Schlaflosigkeit, fast Stumpfheit. Jedes Eigengefühl ging darin unter. Pierre und Françoise arbeiteten zusammen wie zwei Brüder. Manchmal trafen sich ihre blutbeschmutzten Hände zu kurzem Freundesgruß. Wie Phantasien glitten Bilder und Szenen an ihnen vorüber, eine die andere verlöschend. Einmal wurde ihnen ein blutjunger, schwerverwundeter deutscher Offizier von seinen Leuten, mit denen er Patrouille geritten war, zugetragen. Franctireurs, die in den Büschen herumlungerten, hatten auf ihn geschossen. Die Kugel hatte ihm den Leib zerrissen. »Verflucht, ich muß dran glauben,« sagte er mit zusammengebissenen Zähnen zu Pierre und Françoise, die sich über ihn beugten. Mitten im Stöhnen dann wieder ganz kindlich. »Nun sterbe ich also. Und ich habe noch nicht einmal für einen Pfennig Schulden gemacht! Schade!« Kurz darauf brachen seine kindergroßen Augen. Es war, als seufzte noch dieses: »Schade!« aus seinem halbgeöffneten Munde.
    Ein andermal, in einem zerschossenen und halbverbrannten Dorfe, fanden sie einen bewußtlosen Soldaten im unversehrten Schilderhause vor einem

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