Die Verborgene Schrift
man gewaltige Baumstämme angezündet, um jedes Feuer lagerten etwa zwölf bis fünfzehn schweigende Gestalten. Einmal trafen sie dicht an der Straße einen dicht blühenden, aber hohlen Baum, der von innen brannte. Wie eine blühende Fackel lohte er empor.
Mitten im Schauen fiel Françoise in Schlaf. Sie erwachte frierend und fast furchtsam, sich so im Fremden zu wissen, fand sich eingehüllt, ein Kissen unterm Kopf, einen Koffer als Fußstütze vor sie hingestellt.
»Bon jour, mon camarade,« sagte Pierres Stimme. Sie streckte ihm die Hand hin und dankte.
Im Posthaus eines Grenzdorfes frühstückte man, übernächtig, fröstelnd und wenig zum Sprechen aufgelegt. Die Bewohner waren geflohen. Françoise kochte auf dem verlassenen Herd ihren mitgebrachten Kaffee und stellte in der Eile einige Behaglichkeit auf ihrem Eßtisch her. Es regnete schon wieder. Alles, was man anfühlte, war naß. Die Fliegen in dem niedern Zimmer unerträglich.
Als sie wieder einsteigen wollten, sahen sie plötzlich einen Strohberg lebendig werden, hinter dem sich Soldaten in fremderUniform erhoben. Bayern. Sie kreuzten ihre Bajonette vor den Erschrockenen. »Zurückbleiben,« rief es mit Donnerstimme. Der befehlshabende Offizier trat heran. Bei der Durchsicht von Pierres Papieren, die ihn als Schweizer auswiesen, ließ er den Wagen ohne weiteres passieren. Bedrückt fuhr man weiter in den grauen Morgen hinein. Man war in Feindesgebiet.
Françoise sah abgeerntete Täler, in den Dörfern rüsteten sich die Leute zur Flucht. Hochbepackte Wagen, weinende Kinder, Weiber mit großen Bündeln auf dem Rücken. Und dann wieder auf der zerstörten Bahnstrecke überall fleißige Männer in deutschen Uniformen. Man näherte sich den Stellen, wo gekämpft worden war. Geköpfte Bäume, geknicktes Strauchwerk. Spuren von Blut auf dem Erdboden. Plötzlich kam ein Stöhnen aus dem Gebüsch, ein blauer Ärmel mit fünf goldenen Tressen, an dem keine Hand mehr ist, hängt aus einem Dickicht hervor. Jetzt zieht er sich ein wenig zurück. Die Herren steigen aus und bringen den Verwundeten herbei, der vielleicht schon tagelang da gelegen hat. Françoise schneidet ihm den Rock auf, hilft waschen und verbinden, aber es ist zu spät. Man müht sich um einen Toten.
Im nächsten, halbzerschossenen Dorfe ein Feldlazarett. In den verfallenen Häusern deutsche Ärzte. Man nimmt gern die Hilfe der Elsässer Samariter an. Auch Françoises Leinewand und das frische Wasser, das sie in Fässern mit sich führten, war sehr willkommen. In einem zerstampften Garten grub man einen langen Graben für die Toten, Freund und Feind. Françoise sah unterm Arbeiten aus dem scheibenlosen Fenster herunter auf die Leute, die in ihren blutigen, schmutzbedeckten Uniformen furchterregend schienen, sah, wie sie mit abgezogenen Mützen herantraten und Holzkreuze und Blumensträuße auf die Gräber niederlegten. Sie sah dann freilich auch, wie sie sich bückten und aus demselben Boden nahe dem frischen Leichengraben sich Kartoffeln aus der Erde holten, mit denen sie sich die Taschen füllten zum Mittagessen.
Die vier Elsässer arbeiteten bis gegen Mittag mit den deutschen Ärzten. Die Schwerverwundeten wurden in die Kirchegeschafft, die anderen verschwanden auf den allmählich angelangten Krankenwagen. Françoise, die sich vor dem Anblick der Verwundeten gefürchtet hatte, war nun fast erschrocken über ihre eigene Kaltblütigkeit und Ruhe. Sie fühlte sich selber nicht, war ganz Auge und Hand. Selbst das Mitleid kam zu kurz dabei. Ein einziges Mal wurde sie krank vor Entsetzen, und das war seltsamerweise beim plötzlichen Anblick eines verendeten Pferdes, dessen Körper so unförmig aufgeschwollen war, daß seine vier Beine nur wie spannenlange Stöckchen darin staken.
Endlich saßen sie wieder in ihrem Wagen, müde und wortlos. Pierre wies auf die Soldaten, die zum Bach hinabstiegen, um Wasser für ihre Pferde zu schöpfen, rauchend und scherzend. Nirgends eine Spur an ihnen von den fürchterlichen Eindrücken, Anstrengungen und Entbehrungen des heutigen Tages. Feuer waren angezündet auf den Wiesen, an denen bereits die Suppe kochte. Hier und da ruhige Gruppen, Soldaten, die ihre Röcke ausbesserten und Knöpfe daran nähten. »Es muß Wasser anstatt Blut in ihren Adern fließen.« Die beiden Gehilfen stimmten heftig bei. »Ein Zeichen, daß sie keine Begeisterung haben, ces animaux .«
Françoise schwieg. Endlich, wider ihren Willen brach sie in die Worte aus: »O ich finde sie
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