Die Verborgene Schrift
hinein in diesen Brief und ließ es bluten.
Wenige Tage darauf wurde sie ans Tor gerufen. Pierre war da. Er kam zu Fuß, hatte einen Wagen mit Verwundeten im nächsten Dorf gelassen und wollte nun seine Frau mitnehmen. »Heim pour Mulhouse .« Das Betreten des Klosters war ihm nicht erlaubt.
Sie erschrak.
Pierre erwartete sie unter einer der uralten, dunklen Ulmen, die Kloster und Landstraße voneinander trennten. Eine Bank war da. Auf der setzten sie sich beide nieder, die Gesichter zueinander gewendet, ihre Hand in den beiden seinen. Aber es war lauter Fremdes zwischen ihnen. Pierre erzählte, und Françoise erzählte, ohne daß einer dem anderen recht zugehört hätte. In Pierres treubraunen Augen ging dabei beständig ein Fragen und Bitten zu den jetzt ganz undurchsichtigen schwarzen hinüber, die sich oft wie behutsam schlossen. Dann lagen die Lider seltsam bleich im gebräunten Gesicht.
»Sind Sie müde, warum sehen Sie mich nicht an?« fragte Pierre, der das nicht ertrug.
Sie lächelte zerstreut.
»Ich habe eine Überraschung für Sie im Dorfe,« sagte Pierre endlich. »Einen Verwundeten.«
Françoise wurde weiß. Sie zitterte. »Schwer verwundet? Wer ist es?« fragte sie dann fast schreiend. Das Brausen ihres Blutes war so heftig, daß sie kaum den Namen hörte. Nachträglich verstand sie dennoch: »Victor Hugo.« Wirr und haltlos fing sie an zu weinen, und dann hatte sie tausend Fragen. Wo kam der Bub her? War er heimlich in die Armee eingetreten? Hatten die Preußen ihn gefangen? Ihre Worte überstürzten sich.
Füeßli gab ruhige, aber knappe Antworten. Man habe aus dem Etappenlazarett unweit Toul nach ihm geschickt und angefragt, ob er wohl einen verwundeten jungen Elsässer, ein halbes Kind noch, nach dessen Vaterstadt Thurwiller mitnehmen könne. Dieser junge Elsässer sei Victor Hugo gewesen.
Françoise horchte aufgeregt. Zuletzt fragte sie ganz leise noch eins: »Weiß er, daß ich – daß wir zwei – Haben Sie ihm gesagt, daß ich Madame Füeßli geworden bin?«
Pierre verneinte. »Das habe ich nicht. Der arme Bursche hatte genug mit sich selbst zu tun. Man hat ihm das Bein abnehmen müssen,« fügte er hinzu. Er sah dabei besorgt zu ihr hinüber, wie sie die Nachricht treffe.
Die junge Frau legte schmerzvoll die Hände ineinander. »Victor Hugo ein Krüppel!« Aber sie fühlte mit Scham, daß dieser Ausruf nicht viel mehr war bei ihr als eine Gebärde, und daß der Schreck von vorhin, als sie auf Heinrichs Namen wartete, immer noch in ihr nachbebte.
Füeßli stand auf. In seiner Bewegung lag schwer beherrschte Ungeduld. »Nun, er kann von Glück sagen, daß er nicht füsiliert wurde. Es war nahe daran.«
»Warum? Wofür?«
Aber Pierre wollte nichts weiter sagen. Der junge Schlotterbach solle selber beichten. Es werde ihm gut tun. Denn viel schlimmer als seine Wunde sei sein Seelenzustand. »Wenn ich nicht aufgepaßt hätte, er wäre mir unterwegs unter die Räder gesprungen.« Er schwieg und sah sie an. Dann blickte er ein paarmal nach der Uhr. »Wie lange brauchst du, dich zu bereiten?«
Françoise richtete sich auf vor diesem »Du«. Zum erstenmal ließ Pierre sie fühlen, daß sie sein Eigentum war. In diesem Augenblick tiefster Aufgewühltheit hatte das eine verhängnisvolle Wirkung auf die junge Frau. Alles Zurückgedrängte wurde stark und bäumte sich auf gegen ihn. Sie wollte jetzt nicht fort von hier, wollte nicht weg aus der Nähe von Nancy. Ein Böses, Neues schoß in ihr auf, die Kraft sich zu verstellen. Alle Mächte weiblicher List wurden in ihr wach.
»Wäre es nicht am besten,« sagte sie, mit einer Stimme, deren Ehrlichkeit ihrem früheren Selbst abgeborgt war, »ja, wäre es nicht am besten, mein Freund, wenn Victor Hugo hier ins Kloster geschafft und da von uns gesund gepflegt würde?«
»Von uns? Ah, Sie meinen die Nonnen.«
»Und von mir,« sagte sie erbarmungslos.
Er blickte auf. »Sie möchten also noch bleiben?«
Aber sie, sogleich Meisterin in ihrer kaum erst geborenen Kunst, fuhr fort: »Aufrichtig gesagt, ja. Einige Zeit noch wenigstens. Es sind gerade jetzt ein paar Schwerkranke wieder eingebracht. Jedes Paar Hände ist nötig. Wenn Sie's natürlich wünschen, werde ich – – Aber ich dachte, es sei noch nicht so eilig mit der Heimreise.« Sie sah zu Boden, ihre Lider zitterten vor Erwartung. Dann hörte sie des armen Pierre gewaltsam brüderlich gedämpfte Stimme.
»Sie haben recht, Françoise. Man muß sich gedulden; in dieser Zeit gehören wir
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