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Die Verborgene Schrift

Titel: Die Verborgene Schrift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anselma Heine
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dem Vaterlande, nicht uns selbst. Sie beschämen mich.«
    Françoise war glühend rot geworden. In ihrer Verwirrung und Dankbarkeit legte sie, da im tiefen Schatten geschützt vor den Blicken der Vorübergehenden, ihre schmal gewordenen Arme um Pierres Hals.
    Auf Pierres Aufforderung gingen sie dann ein paar Schritte weiter nach dem Wirtshäuschen, für Pilger errichtet, das mit silbrig glänzendem, durch die Sonne verbogenem Schindeldache hart am Wege lag. Man ließ sich auf dem Holztisch vor der Tür im Hausschatten ein Frühstück auftragen, bei dem man schweigsam aß, im Anscheine einer Behaglichkeit, die man nicht empfand.
    Pierre litt. Seine Hände, dick geädert, zuckten. Françoise neben ihm fühlte sich verächtlich, zweizüngig, falsch, verlogen. Angstvoll spähte sie umher nach Entschuldigungen. Unruhig blickte sie auf den bröckelnden Kalkbewurf des Hauses, auf die geschnitzten, altersschwachen Holzbalken, die die gebrechlichen Holzwände zusammenzuhalten schienen.
    Es war fast Abend geworden, als sie nach dem Dörfchen aufbrachen. Gewitterahnung lag in der Luft. Sie gingen schnell. Françoise war es, da sie so dahineilte, als erwarte sie da irgendwo ein eingreifendes Erlebnis. Seit ihrer allerersten Jugend schon war sie solchen seltsamen Vorgefühlenunterworfen. Früher aber war es Sehnsucht gewesen, wollüstig-dunkle Furcht des Mädchenbluts vor seinem Schicksal, heute war es Fatalismus, tatenlose Ergebung in eine Entscheidung.
    Das Dorf, in das sie bei Abendläuten gelangten, war morastig und übelriechend, mit Misthaufen vor den Türen, kleine, schiefe Häuschen mit fliegenbeschmutzten Fenstern, dazu ein schöner, dunkler Menschenschlag mit Augen, deren Feuer die Rebbauern verriet. Wirklich hoben sich auch niedere Hügel im Süden des Ortes empor, deren hohe weiße Stecken, feucht in der Sonne glänzend, zwischen vergilbten Ranken unruhig hervorstachen.
    Pierre hauste im einzigen Wirtshause, einer Ausspannung, mit niederen, fliegengeschwärzten Stubendecken und einem Kuhstall, rundem Torbogen und modrigem Unkrautgarten. Ein paar Gemüsebeete waren in die Brennesseln und in das Rankengewirr unzähliger Schmarotzerpflanzen sauber hineingeschnitten. Weiße Schmetterlinge flogen in träger, seltsam dichter Wolke darüber hin. Gegenüber flammte und dröhnte die Schmiede, auf dem Marktplatze jagte sich ein Rudel überernährter Hunde, dicht unter dem blutigen Maule eines toten Kalbes, das da den Fliegen als Eierablage diente. Im Hintergrund zeichnete sich auf einem Baumhügel das langgestreckte Gebäude einer Priesterschule ab.
    Das Zimmerchen, in das Françoise trat, war mit hübschen Kretonne-Vorhängen geschmückt, über dem breiten Bett hing ein schönes altes Madonnenbild und schaute lächelnd herab auf die starre, weiße Gestalt, die da in den Kissen lag.
    »Er weiß nicht, daß Sie kommen,« flüsterte Pierre. »Treten Sie gerade vor ihn hin, daß er Sie sieht!« Er selbst verließ das Zimmer, um nach den anderen Verwundeten zu sehen, die mit den beiden Helfern drüben im Konvikt untergebracht waren.
    Françoise stellte sich am Bettende auf und wartete. Sie sah ein fahles Gesicht mit einem kleinen blondglänzenden Bärtchen auf der Oberlippe. Und jetzt traf sie ein mißtrauischer, forschender Blick aus großen, düster gewordenen Knabenaugen.
    »Ça va mieux?« fragte sie ungeschickt heiter aus gepreßter Kehle heraus, »Sie haben keine Schmerzen mehr?«
    Er antwortete nicht. Und immer dieser tiefe, leidgefüllte Fakirblick.
    Sie fing wieder an zu plaudern.
    »Sie wundern sich nicht, mich hier zu sehen?«
    Er schwieg. Etwas Abweisendes kam in seine Augen, mit denen er sie noch immer festhielt.
    Françoise nahm all ihren Mut zusammen, sie trat zur Seite an ihn heran und ließ ihre Finger sanft über seine braunen, rissigen Hände gleiten, die auf der Decke lagen. Mit Kraft riß er die Arme auseinander. »Tut mi net anrühre, Mademoiselle Balde, tut Euch net vergifte an mir.«
    Entsetzt und Beistand suchend sah sie sich nach Pierre um. Hatte er sie zu einem Wahnsinnigen gefühlt?
    Victor Hugo streckte jetzt beide Arme hart und gerade von sich, so daß er nun dalag wie ein Gekreuzigter. Und jetzt fing er an zu reden, fieberhaft flüsternd, wie feindgejagt. »Net mir d' Händ anrühre, das sin d' Händ von einem misérable . Jo die Händ« – er betrachtete sie, indem er langsam den ausgestreckten Kopf hin und her wendete – »die Händ do han d' patrie verrote, trahi la France! Mais c'était plus

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