Die Verborgene Schrift
älteren Herrn, den man nicht kannte. Man bemerkte beim Vorüberfliegen eine goldene Brille und einen grauen Vollbart, dazu einen lehrhaft gegen die Straße gestreckten Zeigefinger.
Die Leute lachten. »Sicher'n Studierter. Halt en' Schwob.«
»Sie werden eine gute Ernte bekommen, Herr von Meckelen,« sagte drinnen im Wagen der Universitätsprofessor Heinrich Hummel aus Straßburg zu seinem Gastfreunde und wies auf die Kirschbäume am Wege. »Die Knospen, scheint mir, haben nicht gelitten durch den Frost.«
»Wer kann das sagen, Herr Geheimrat. Später Schnee freilich ist gut. Aber für die hiesige Gegend auch gefährlich, wegen der Thurüberschwemmung.«
»Ach ja, die Thur, ich weiß. Sie verändert jedes Jahr ihr Bett.« Dabei kam etwas Horchendes in sein Gesicht. So als höre er irgendwo da draußen einen Ton, eine Melodie, die ihn erinnere. Er rückte seine Brille fester. Seine Augen richteten sich mit dem scharfen Blick des Naturforschers auf die Dünste, die der Thurwald hier heraufschickte, und die, das Gebirge verhüllend, ein dunkleres Grau in den Regennebel hineinmalten.
Arvède von Meckelen merkte mit Erstaunen, wie jugendlich der gelehrte Herr aussehen konnte, wenn er lächelte. Bis jetzt hatte der Baron sich ein wenig gelangweilt mit dem nicht sehr redseligen und etwas steifen Geheimrat. Mit schlechtem Gewissen! Denn er hegte für den Mann, der im Jahre Siebzig seinen Bruder Germain vom Schlachtfelde trug, eine tiefe und dankbare Pietät in seinem Herzen. Und als seine kleine Madame Yvonne ihm eines Morgens mit vor Rührung bebender Stimme aus der Mülhauser Zeitung vorlas, der berühmte Jenenser Bakteriologe Heinrich Hummel sei an die Universität Straßburg gerufen worden, da beschlossen sie beide, den unbekannten Freund aufzusuchen, ihm zu danken, ihn zu sich aufs Land zu laden. »Wir werden mit ihm gemeinschaftlich diesen teuren Toten beweinen,« sagte Yvonne, »der für Deutschland gestorben ist,« und ihr zartes Gesichtchen rötete sich vor Eifer.
Sie waren dann auch wirklich nach Straßburg gefahren und hatten den Professor aufgesucht, der in einem der neu entstehenden Stadtteile, in die sie sonst kaum kamen, in der Nähe des Statthalterpalastes wohnte. Gerade, breite, tadellossaubere Straßen, in denen sie ihre alte, kapriziöse und zugleich feierliche Stadt nicht mehr erkannten. Unglücklicherweise hatten sie den September zu ihrem Besuch gewählt, die »großen Ferien«, von deren Existenz sie nichts wußten. Das Haus war verschlossen. Als Antwort auf die Karten, die sie hinterließen, bekamen sie im November Hummels große offizielle Visitenkarte zugeschickt, auf der ein paar höflich bedauernde Worte standen. Nichts weiter.
Jetzt aber hatten sich seit einiger Zeit mehrere Städte des Elsaß zu einem Kunstbunde zusammengetan, der Konzerte und literarische Vorträge veranstaltete, und dem auch die Meckelens angehörten. Als letzte Vorführung dieses Jahres hatte man Hummel ausersehen. Der Vortrag sollte in Mülhausen stattfinden. Als Hummel die Aufforderung annahm, machten die Meckelens einen zweiten Versuch, sich ihm zu nähern: sie luden ihn ein, auf dem Hin- oder Rückwege ihr Gast zu sein. Zu ihrer Freude nahm er an. Nun war er gestern gekommen, wollte morgen abend abreisen und beunruhigte sie ein wenig durch die hilflose Abgeschlossenheit seines Wesens. Sie hatten nicht bedacht, daß er nun fast schon ein Sechziger war. Nur wenn er, wie eben jetzt, still in sich hineindachte oder, getroffen durch ein Wort, aufsah, bekamen seine Züge Frische. Und wenn er den Hut lüftete, leuchtete die Klugheit seiner Stirne hell über den etwas stubenhaft schlaffen Gesichtszügen.
Sie fuhren eine Weile schweigend. Das Geräusch des Autos erschwerte längere Unterhaltungen. Hummel blickte hinüber nach dem zackigen Gebirge, das sich jetzt zu enthüllen begann. Er dachte daran, daß er vor einem Menschenalter dieselbe Straße hier gewandert war, erwartungsvoll und froh, zwischen Feldbreiten goldenen, buntdurchblühten Korns, und es tat ihm einen Augenblick leid, hierhergekommen zu sein. Man soll nie wieder die Plätze aufsuchen, an denen man jung war. Daß er es dennoch tat, galt einem Wiedersehen mit Victor Hugo. Denn da die Meckelens ihn als Pfleger ihres armen Germain feierten, war ihm eingefallen: weit mehr Grund zur Dankbarkeit habe ja doch er seinem LebensretterVictor Hugo gegenüber. Er erkundigte sich nach ihm, und es stellte sich heraus, daß er Arvèdes Schwester geheiratet hatte, jenes
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