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Die Verborgene Schrift

Titel: Die Verborgene Schrift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anselma Heine
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Geheimrat. Unsere Erde ist unsere Heimat. Wenn man auch die uns noch verschandelt, dann, ja dann ... Meinetwegen kann man dann auch türkisch werden.«
    Sieh, sieh, der Agrarier, dachte Hummel.
    »Aber haben nicht viele Leute ihr Brot durch diese Unternehmungen?« fragte er beschwichtigend.
    » Malheureusement. Man lockt uns vom Lande die Knechte weg und macht dann Maschinen aus ihnen. Und diese Arbeit à la prussienne liegt nicht in der Natur unserer Leute. Sie sind es gewöhnt, ein wenig zu verschnaufen, wenn die Lust sie dazu ankommt, zu lachen, zu schwätzen, und es wird ihnen arg schwer, das Maul zu halten, wenn ein Bonmot sie prickelt. Sie kommen wohl auch mal eine halbe Stunde später, als die Uhr es bestimmt. Dafür schaffen sie ein andermal über die Zeit hinüber, wenn's ihnen in den Kopf kommt. Da drüben aber werden sie ausgenutzt, bis sie keinen Tropfen gesundes Blut mehr im Leibe haben. Kommen sie dann aus der Fabrik nach Hause, wollen sie genießen: Kino, Wirtshäuser, die Frauen tun mit. Das Geld geht zum Teufel und die armen Seelen selber hinterdrein. Und dann kommen sie zu uns zurück und wollen wieder Bauernarbeit tun. Als ob sie das noch könnten, geschwächt und anspruchsvoll wie sie sind! Und nun sehen sie erst dies! Vous voyez ces baraques-là? «
    Jetzt zog auch Hummel die Stirne kraus. Da wo früher das Pfennigsche Grundstück so einladend und behäbig gelockt hattemit seinem niederen Fachwerkhause, dem Kuhgeruch und seinen Fruchtbäumen auf Wiesengrund, da sah man jetzt ein paar engbrüstige hohe Mietskasernen, dünnwandig und bereits ein wenig schief in ihrer schlecht getünchten Nacktheit stehen. Der Geheimrat schüttelte mißbilligend den Kopf. »Aber das ist unerhört, die schönen alten Häuser einfach wegzureißen. Ja, konnte man denn das nicht verhindern? Wir haben doch den Verein zur Erhaltung elsässischer Bauwerke?«
    Der Baron hatte ein nachsichtiges Lächeln in den schmalen Augen. »Ganz so einfach gehen diese Dinge doch nicht zu behandeln, wie Sie, Herr Geheimrat, sich das vielleicht auf Ihrer behüteten Professoreninsel vorstellen.« Er sah, erschrocken über seine Verwegenheit, dem Gaste ins Gesicht. Der aber sah nur nachdenklich vor sich hin. So fuhr er fort:
    »Die Geschichte dieser Häuser ist die Geschichte unserer ganzen Gegend. Vor sechs Jahren noch stand das Gehöft ruhig da. Man bewunderte es niemals, man liebte es, ohne das zu wissen. Eines Tages, un beau jour, findet der propriétaire Kali auf seinem Grundstück und in den Monaten darauf immer mehr Kali, überall. Er zeigt es der Regierung an, man kauft, grabt, wühlt und demoliert. Der Mann verkauft für die unerwartet hohe Bezahlung Stück für Stück von seinem Eigentum und zuletzt das ganze Anwesen an die hiesige Kaligesellschaft. Er wird ein reicher Mann. Übrigens aber macht das gouvernement damit ein schlechtes Geschäft. Denn natürlich hat mein bonhomme , entwurzelt wie er doch nun einmal ist, nichts Eiligeres zu tun, als mit seiner Familie nach Frankreich überzusiedeln und dort sein von den Deutschen erhaltenes Geld als Rentier zu verzehren. Auf dem Rest des Grundstücks aber haben deutsche Bauunternehmer die Cochonnerien aufgerichtet, die Sie da sehen. Enfin que faire? «
    »Und wer bewohnt die Häuser?«
    »Zugezogene Leute. Angestellte der Fabriken, Agenten, que sais-je, der ganze Troß von Spekulanten und von traditionslosem Gesindel, das zu solch modernem Betrieb nun einmal gehört. Moderner Betrieb,« wiederholte er,Er sah zart und bekümmert aus, wie er da in seiner Ecke saß und klagte.
    Hummel betrachtete ihn mit Sympathie. Ihm selber war die moderne Industrie mit all ihrem Geräusch, ihrer Hast und ihrem Haften an der Materie zum mindesten gleichgültig, oft störend gewesen. Er verachtete sie ein bißchen. Wie er alles ein bißchen verachtete, was nicht Wissenschaft war.
    »Wenn Sie hier schon klagen,« sagte er, »dann dürfen Sie nicht nach Berlin gehen. Ich war einmal da. Freilich ist es jetzt schon eine Weile her. Damals, gerade ehe ich den Ruf nach Straßburg erhielt, bekam ich nämlich auch eine Anfrage nach Berlin. Ich war dort, mir die Verhältnisse anzusehen, zwei Tage, dann hatte ich genug. Moderner Betrieb, wie Sie sagen. Man kann in Berlin nicht denken. Jeder füllt sich seinen Tag voll Lärm und Anstrengung, weit über seine Kräfte, und nachts, genau wie Ihre Arbeiter hier, stürzen sie sich in das Vergnügen. Wieder eine Arbeit. Zeit hat niemand. Auf den Straßen hört man kein

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