Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Verborgene Schrift

Titel: Die Verborgene Schrift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anselma Heine
Vom Netzwerk:
Männer vor eine Landkarte gesetzt und einen Strich gezogen haben. Die Grenzen des Herzens« – wieder streckte er mit Pathos den rechten Arm aus – »die Grenzen des Herzens lassen sich nicht gebieten.« Die Röte wich aus seinem Gesicht, die Stimmanstrengung schien ihm wohlgetan zu haben.
    »Hm,« machte Hummel verbissen. Er erhob sich. »Dann also« – er machte eine kurze harte Verbeugung, und ohne ein Wort hinzuzufügen ging er mit lauten Schritten zur Türe hinaus, die Treppe hinunter. Im Vestibül angelangt, hörte er Victor Hugos nachziehenden Gang im oberen Korridor, riß, ehe der herbeistürzende Diener ihm helfen konnte, Hut und Schirm vom Riegel und lief wie vor etwas durchaus Widerwärtigem die Freitreppe hinunter durch den Garten. Trotz seiner Wut und Aufregung bückte er sich draußen an der Rabatte, eine gelbe Pflanze zu betrachten, die ihm in dieser Jahreszeit und Klimazone als ungewöhnlich auffiel.
    Auf der Straße blieb er stehen und ordnete seinen Atem. »Diese Elsässer! diese Elsässer!« sagte er fast weinend. Er fühlte sich beleidigt und beraubt, so als habe man ihm ein kostbares Eigentum, das er sich in einer Vitrine bewahrt, zerbrochen oder entwendet. Mit bebenden Lippen ging er weiter, dem Fabrikgeräusch folgend, das schwach bis hierher drang, sich mit jedem Schritt vor ihm verstärkte, dann zu einzelnem Gelärme auseinanderfiel und ihn führte. Dazu rief ihm das aufgewühlte Blut beständig Töne in die Ohren, Schreie von Tieren oder Menschen, zuletzt immer deutlicher als die Stimmeeines Kindes erkennbar. Dazwischen rief jemand, ob Weib oder Mann, ließ sich nicht unterscheiden, laut um Hilfe.
    Hummel spürte im allgemeinen keine starken Impulse des Zugreifens in sich, da aber das Schreien und die Rufe andauerten, setzte er sich rascher in Bewegung, nachzusehen, was es gebe. Er rückte sich die Brille fester und machte große Schritte, lief so über das Ödfeld an den leeren Arbeiterschuppen vorbei, hinter denen etwas dampfte. Bald sah er: es war die große Kalkgrube. Davor tanzte etwas Kleines, Helles, ein Kind. Es machte hohe Sprünge, von denen man nicht gewußt hatte, daß ein menschliches Wesen sie machen konnte, und die umso sonderbarer erschienen, als sie, von Schreien begleitet, in ein wie behextes Drehen ausarteten. Neben dem satanisch hüpfenden Kinde stand eine alte Frau und bewegte gleichfalls laut schreiend sinnlos die Arme. Er erkannte jetzt die Sommerfleckige und das braunlockige Bübchen von vorhin, sah auch eins große Gartengießkanne und verstand, daß der Kleine den ungelöschten Kalk zum Sieden gebracht und sich dabei verletzt hatte.
    Das Kind, da es ihn kommen sah, hatte mit seinem schauderhaften Gespringe und sogar mit Schreien aufgehört.
    »Was gibt es denn?« fragte Hummel, »hat er sich verbrannt?«
    Die Alte, an die er sich wandte, fing an in aufgeregtem Elsaß-Deutsch zu erklären. Gespielt habe es, das Martinle, und dann sei es mit dem Fuß, ja mit dem ganzen Fuß sei es hineingetreten in die Kalkgrube. Dann fuhr sie fort, mit rostiger und brüchiger Stimme Heilsprüchs zu singen.
    »Dreimal an de Galge g'hängt,
steckele uffe, Steckele abe,
biß d'r Katz d'r Wadel a –«
    Hummel war an das Kind herangetreten, das ihm jetzt vertrauensvoll sein Beinchen entgegenstreckte, und hatte begonnen, den halb verzunderten kleinen Knöpfschuh mit seinem Taschenmesser vollends wegzuschneiden. Das Kind schluchzte still. Mit geöffnetem Mäulchen seufzte es nur klanglos und rhythmisch auf, wie der Krampf der Schmerzen es stieß,wobei es jedesmal seine großen, ganz mit Tränen gefüllten, unbeschreiblich glänzenden schwarzen Augen auf den Fremden richtete, der, ohne den Knaben anzusehen, an ihm hantierte. Nur als auf Anweisung des Professors die Alte ihm das nun nackte Füßchen mit dem kalten Wasser der Gießkanne abspülte, begann der Kleine wieder sein Geschrei, das die Alte durch ein neues Sprüchlein zu beschwichtigen suchte:
    »Hopsa, Kindele, hopsassa,
kumm', w'r wolle danze,
nimm e Stickele Käs' 'n Brot,
steck's in dine Ranze,«
    wobei sie ihre Hände wie tanzend grotesk bewegte.
    Inzwischen waren die Arbeiter aus dem Fabriktor herausgekommen, Männer und Frauen. Sie stellten sich an die Kalkgrube, fragten und gaben Rat: Weiße Liliensalbe sei das Beste. Und geriebene Kartoffeln auflegen. Auch Spinnwebe oder Schafsmist tue Wunder.
    Hummel schickte einen Halbwüchsigen nach der Apotheke, er solle Leinöl holen; dann schrieb er in sein Notizbuch ein Rezept,

Weitere Kostenlose Bücher