Die Verborgene Schrift
Fluß hinüber zum Münster, das sich heiter und ziervoll gegen den blauen Himmel abhebt, und überschreitet dann die Thomasbrücke.
Er wandte sich rechts zum alten Thomasstift, hinter dem der ehrwürdig-plumpe Turm der Thomaskirche hervorschaute. Orgeltöne kamen herüber, vereinzelte Akkorde, dann Kadenzen, die sich zu einem kunstvoll umschnörkelten Bachchoral zusammenschlossen. Das spielte Albert Blanc, der Vater von Jeannette, der Sohn des alten Pfarrers Eusèbe Blanc. Und wahrscheinlich standen wieder ein paar seiner jungen Schülerinnen und Anbeterinnen neben ihm auf der Orgel. Albert Blanc war der vergötterte Prediger der protestantischen Frauenwelt in Straßburg. Dabei ein talentvoller Musiker, überdies umkleidete es ihn mit einer Art mystischen Gloriole, daß er als blutjunger Mensch als Missionar nach Französisch-Afrika gegangen war. Man fand das sowohl mutig wie poetisch. In Wahrheit hatte ihm diesen Entschluß die Vernunft diktiert. Er gewann auf solche Weise in Kirchenkreisen Protektion und konnte abwarten, zu wessen Gunsten die Verhältnisse daheim sich entscheiden würden. Sein Vater Eusèbe Blanc lebte inzwischen im Exil in der Schweiz, von der französischen Partei der Spionage für Deutschland beschuldigt, wie alle protestantischen Pfarrer damals im Elsaß. Albert kehrte zurück, als die Straßburger Universität seinen Vater zum Lektor der französischen Sprache berief. Jetzt trieb er hier Vermittlerethik zwischen deutscher und französischer Kultur.Sein Buch über Kirchenmusik, in französischer Sprache verfaßt, schrieb er rasch ins Deutsche um. Hin und wieder fuhr er nach Paris, um im dortigen Bach-Verein Orgel zu spielen. Seine Frau war, gerade wie seine Mutter es gewesen, eine kleinbürgerliche Straßburgerin. Dem jungen Martin schien der deutlich betonte Idealismus dieses Mannes, der so praktisch handelte und nirgend anstieß, ein wenig komisch. Recht klar aber hatte er sich das alles noch nicht gemacht. Er dachte mehr in das hinaus, was kommen würde, als über das Gewordene, das fertig vor ihm stand. Und er hätte sich manchmal gern Scheuklappen angelegt, nur um ungestörter vorwärts stürmen zu können. So lief er denn auch jetzt, ohne sich weiter umzusehen, in dem ehrwürdigen, mit Altertümern vollgepfropften Stiftshause wie ein Sturmwind die breite, ausgetretene Treppe hinauf. Oben im Besuchszimmer schien großes Putzfest zu sein. Martin erwischte noch rasch den Anblick seiner Kusine Jeannette, die ein Staubtuch über dem Haar, mit einem kleinen Schrei davonflog. Seine Tante, gleichfalls den Kopf verhüllt, eine große weiße Ärmelschürze über dem Kleide, hielt einen langen Besen in der Hand und starrte mit weit zurückgelegtem Kopf wie gebannt nach oben. Sie begrüßte den Neffen, indem sie ihm nicht ohne Zierlichkeit die Wange zum Kuß bot. »Ich bin auf der Jagd nach Spinnweben,« sagte sie; »mein Sohn Maurice kommt morgen an. Er hat zum Oktober eine Stelle bekommen als Volontär in dem Hygienischen Institut des Geheimrats Hummel. Wir machen ihm sein Zimmer in Ordnung. Aber dieses alte Haus bringt mich noch um. Überall sammelt sich Staub an, und mein Mann erlaubt ja nicht, daß man aufräumt. In seinem Zimmer unten schon gar nicht. Monsieur Bach hat eine ganz schwarze Nase, und unter dem Glas von Berlioz' Porträt hängt eine vertrocknete Motte. Er ist so genial, dieser liebe Albert.« Sie seufzte. »Sie kommen vom Tennis?« fing sie wieder an und zog ihre langen Schutzhandschuhe aus.
»Ich gehe erst, meine Tante, und ich wollte fragen, ob meine Kusine vielleicht –«
Sie unterbrach ihn. »Gehen Sie einen Augenblick hinunter, Martin. Mein Schwiegervater wird sich freuen, Sie zu sehen. Wir kommen gleich.«
Unten fand er den alten Eusèbe Blanc, der in einem Hefte las, das elfenbeinfarbene, zarte Profil sanft geneigt über der breiten weißen Halsbinde. Wenige lange weiße Haare fielen auf seinen dunklen Predigerrock. Er sah aus wie ein französischer Abbé aus dem achtzehnten Jahrhundert. »Mein Kollegienheft,« sagte er zu Martin. »Aber es ist alles nur Verschwendung für die heutige Jugend. Sie hat keinen Sinn mehr für Grazie, und sie hat, noch schlimmer, keinen Sinn mehr für den Geist. Man hat heute nur noch Respekt vor seinem Körper und dessen Bedürfnissen.«
»Aber diese Bedürfnisse, scheint mir, man befriedigt sie durch Erfindungen, die der Verstand gemacht hat?«
»Der Verstand. Aber es gibt keine zwecklose Feinheit oder Tiefe mehr. Weder bei den
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