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Die Verborgene Schrift

Titel: Die Verborgene Schrift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anselma Heine
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Eltern mit nach Straßburg genommen. Sie wollten dem Geheimrat einen Besuch machen. Dieser Besuch enttäuschte den kleinen Martin jämmerlich. Er fand einen alten zerstreuten Herrn, der »ach so« zu ihm sagte, ihn mit großen blauen Augen hinter seiner Brille betrachtete und dann mit den Eltern weitersprach. Die saßen steif und, wie das Kind wohl merkte, gleichfalls unbefriedigt zwischen dem alten Herrn und einer Dame mit ganz hellblondem Haar, die furchtbar gerade saß und eine hohe, laute Stimme hatte.
    Martin konnte ihr Deutsch nicht verstehen. Man führte ihn denn auch bald in die Kinderstube, wo drei Kinder Schularbeiten machten: Helmut, Hanna und Dora. Die beiden älteren ließen sich nicht stören, nur Dora kam auf ihn zu und fragte: »Hast du mir was mitgebracht?« Sie gab ihm dann Bonbons, die sie vom Apotheker geschenkt bekommen hatte, und die zwischen den Zähnen klebten. »Ich leihe sie dir,« sagte sie dabei, worauf Helmut laut lachte und überlegen sagte: »Sprich nicht solchen Unsinn, Dora!« Hanna, die die Haare in einem steifgeflochtenen dicken Zopfe trug, während Dora Locken mit einer roten Schleife hatte, sagte belehrend: »Leihen ist Wiedergeben, Schenken ist Für-immer-behalten.« Doras Haar war rötlichbraun und gefiel Martin sehr. Zuletzt hatte er angefangen zu weinen, und man brachte ihn weg. Bei der Rückfahrt hörte er die Eltern sagen: »Man paßt nicht mehr zueinander. Er ist so beschäftigt. Man hat die ganze Zeit über das Gefühl, ihn zu stören.«
    Sie sind nie wieder hingegangen.
    Im Jahre 1908 dann, er war schon ein großer Junge, machte sein Vater mit ihm eine Fußwanderung durch den Schwarzwald und führte ihn auch nach Donaueschingen. Martin war entzückt von dem Schloß mit seinem Park und Teichen, besah sich auf Wunsch des Vaters zerstreut die reinlich gefaßte Donauquelle und geriet in Rausch vor den sacht auf dem Wasser dahingleitenden schwarzen Schwänen mit roten Krönchen und roten Halsringen. Wie verzaubert starrte er hinunter. Neben ihm stand ein Mädchen mit festgeflochtenem blondem Haar in hellem Sommerkleid, das gleichfalls hinabblickte. Eine hohe, laute Stimme rief sie ein paarmal bei Namen: »Hanna.« Dann kam die Dame heran: Frau Hauptmann Hummel mit ihren beiden anderen Kindern. Sie erkannte Pierre, man begrüßte sich und blieb beisammen. Dora und Martin, die Gleichaltrigen, wurden ausgeschickt, Pilze zu suchen. Dora gab ihm Schokolade aus ihrem Täschchen. Er fand sie reizend mit ihrem üppigen herbstroten Haar, das ihr, von einem runden Kamm gehalten, bis zu der Taille fiel. Sie schüttelte es beständig.Wie eine kleine vollständige Dame war sie schon, zog ein Puderbüchschen aus der Tasche und puderte sich, indem sie in ein Taschenspiegelchen guckte. »Es ist schick, seine Toilettenkünste nicht zu verbergen,« sagte sie dabei altklug. »Wir Elsässerinnen tun das nie. Jawohl, ich halte mich für eine Elsässerin. Ich war ja erst ein Jahr, als wir nach Straßburg zogen.«
    Es verdroß Martin, daß sie sich bei dieser Rede ängstlich nach der Mutter und den Geschwistern umsah, ob sie auch nichts hörten.
    Dora aß wieder Schokolade. »Ich habe immer solchen Appetit,« sagte sie kummervoll, »aber dann massiere ich mich, um nicht zu dick zu werden. Und wenn es niemand sieht, trinke ich Essig, das macht blaß.«
    Bis jetzt sah sie noch recht rundlich und blühend aus, wie Martin wohlgefällig bemerkte. Die ernste Hanna dagegen, mit dem herb geschlossenen Mund und den geradeblickenden grauen Augen, machte ihm fast Furcht. Helmut nun gar – jetzt schon Student in höheren Semestern – war unausstehlich. Alles wußte er besser, und wenn er in seinem von der Mutter ererbten Ostpreußisch zu ihm sprach, sah er mit harten, herrischen Augen über den zierlichen Elsässerbuben hinweg, wie über etwas Verachtetes. Sein schmales, bartloses Gesicht erschien unangenehm nackt. Er trug einen schwarz gefaßten Klemmer und ein goldenes Uhrarmband.
    Und dann ist vor Martin ein Wunder aufgegangen. Ein Brausen ist gekommen, ein Rauschen, als schwelle das Meer heran von seinen fernen Küsten. Und dann schwamm etwas über ihn hinweg, ruhig, schimmernd und unbegreiflich. Zum erstenmal sah Martin ein Luftschiff. Der Knabe fühlte einen Schwindel der Lust. Ohne daß er es wußte, stürzten ihm die Tränen aus den Augen. Als er aufsah, war Hanna neben ihm. Ihre starken, gesunden Zähne blitzten. Sie nahm Martin bei der Hand und zog ihn weg. »Die anderen sollen nicht über dich

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