Die Verborgene Schrift
Elsässern noch bei den Deutschen.«
»Nicht bei den Deutschen? Diesen offiziell beglaubigten Philosophen?«
»Nenne sie nur einmal so, mein Kind. Dann wirst du sehen! Für einen Schimpfnamen halten sie das, diese Deutschen von heute! Wie wäre das auch anders möglich in einer Zeit, in der man die Technik anbetet. Eure Naturforscher haben die Meßbarkeit und Zählbarkeit des Universums entdeckt und so alle Welt zu Materialisten gemacht.« Der fast Neunzigjährige hüstelte.
»Seine alten Klagen,« sagte Madame Blanc, die mit Jeannette hereintrat.
Das junge Mädchen, ein brünettes, mageres Ding mit großen schwarzen Augen unter seinen Brauen, begrüßte den Vetter heiter. »Sie kommen vom Tennis?« fragte auch sie.
»Ich wollte fragen, ob Sie Lust haben mitzukommen?«
Madame Blanc hob beide Hände hoch. »Auf keinen Fall. Ich selbst habe heute nicht Zeit mitzugehen, und ein junges Mädchen ohne dame d'honneur –«
»O, du erlaubst es, nicht wahr?« Jeannette umarmte ihre Mutter, den Kopf lachend zu ihrem Vetter zurückgebogen.Ihr dünnes Musselinkleidchen war so modisch eng, daß man jede Muskelbewegung ihrer Beine und Schenkel sah. Martin blickte sie entzückt an. »Tennis ist so eine gesunde Bewegung für junge Mädchen!«
Der greise Gelehrte lächelte. »Sie sprechen wie ein alter Professor, junger Mann. Aber so ist es jetzt! Nicht einmal die Natur wird noch einfach als Genuß genossen. Man schwimmt und rudert nicht. Man treibt Wassersport, und wenn sich zwei junge Leute in Gesellschaft begegnen, sagen sie zueinander: ›Fühlen Sie einmal meinen Bizeps, wie hart er ist.‹« Er lachte. Seine leise gewordene, etwas stockende Stimme hatte den Klang eines alten, ausgespielten Spinetts.
Madame Blanc hatte respektvoll zu der kleinen Rede des alten Herrn geschwiegen. »Ah, hören Sie Monsieur, der mir recht gibt,« sagte sie jetzt. »Junge Mädchen, die Sport treiben, bekommen einen schlechten Teint und braune breite Hände. Und sie bekommen einen enormen Appetit. Sie werden dick. Und kurz und gut,« sie wehrte majestätisch die bittende Liebkosung ihres Töchterchens ab, »ich finde es für ein junges Mädchen durchaus unschicklich, mit lauter jungen Leuten umherzuspringen, noch dazu ohne Aufsicht. Es knüpfen sich dabei Beziehungen an –«
»Aber gar nicht, meine Tante. Sie irren vollkommen. Gerade der Sport befördert den harmlosen Verkehr zwischen den jungen Menschen beiderlei Geschlechts. Man fühlt sich als Kameraden.«
»Das ist ja eben das Empörende!« Tante Blanc war das Blut zu Kopf gestiegen. »Kameradschaft! Schließlich wird überhaupt nicht mehr geheiratet.« Sie schrie so laut, daß der Kanarienvogel anfing zu schmettern.
»Also gehen wir?« fragte Martin, die Erörterung keck abschneidend.
»Wer spielt denn mit?« fragte Jeannette.
»Da sind zwei Plätze, ein elsässischer und ein deutscher. Aber von meiner elsässischen Partei sind schon einige verreist, und da werde ich wohl heute mit den Deutschen spielen. Die Hummels haben mich aufgefordert.«
»Ah?«
»Ihre Schulkameradinnen, meine Kusine, wie ich glaube.«
»Ja. Ich war erst mit Hanna, der Ältesten, und dann mit der Dora in einer Klasse. Dora ist ja ganz angenehm. Aber die Hanna –! Wir nannten sie bas-bleu , wir Elsässerinnen.«
»Sie spielt schneidig. Am besten von allen.«
»Alles was sie tut, tut sie am besten,« sagte Jeannette mokant.
»Das macht ein junges Mädchen nicht gerade liebenswürdig, denke ich,« äußerte Madame Blanc. »Und übrigens wäre es für Jeannette wenig amüsant, mit Ihnen zu gehen, Monsieur, da Sie ja bereits als Kavalier engagiert sind.«
Auch die Kleine hatte nun keine Lust mehr. Sie schmollte sichtlich. »Beeilen Sie sich nur. Sie kommen sonst zu spät zum Rendezvous.«
Verstimmt lief er davon, schwang sich in eine vorüberfahrende elektrische Bahn und hatte mit diesem Sprunge seine Gedanken von den Blancs weg und zu den jungen Mädchen hingeschickt, die ihn erwarteten. Er sah nach der Uhr. Die Hummels waren so pünktlich!
Es ging ihm sonderbar mit diesen Leuten. Er mußte eigentlich immer wieder aufs neue Bekanntschaft machen mit ihnen. Für seine erste Kinderzeit hatte der Mann mit der goldenen Brille und dem grauen Bart, der ihm den verbrannten Fuß verband, immer die Rolle einer Art von Heiland gespielt, vermischt mit der Vorstellung vom Pelzmärten, dem Spender guter Sachen, der aber auch die Rute tragt, und vor dem man Verschen und Gebete hersagen muß.
Dann hatten ihn die
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