Die Verborgene Schrift
entschuldigend hinzusetzte: »Er ist so viel älter als ich, ganz kurz nach der Annexion geboren.«
Hanna kam jetzt mit der ausgeschriebenen Rolle. Sie bat Martin, in ihr Zimmer mit hinaufzukommen, die Wandschirme zu besehen, die er bemalen sollte. Zu Martins Verwunderung und fast Enttäuschung hatten weder Frau Hummel noch Helmut irgendwelche Schicklichkeitsbedenken dabei. Und so stieg er denn hinter der schmalen, leichtfüßigen Gestalt die Treppe hinauf, kam in ein sehr ordentliches helles Zimmer, mitBücherregalen, hinter dessen hellem Kretonnevorhang ein Bett herauslugte. Der Schirm lehnte, halbfertig, an der Wand. Er war mit stark farbigen Bäumen, Berg, Wasser und fliegenden Tieren bemalt. Die zweite Seite noch leer. Hanna zog ein Fach des großen Schreibtisches auf, nahm einen Zollstab heraus und maß gewissenhaft die Seiten. »Eineinhalb Meter zu dreiviertel jeder Teil,« sagte sie trocken.
Jetzt kam auch Dora. Das Haar zierlicher in Unordnung gebracht als vorher, frisch parfümiert und gepudert. »Nun, wird er es machen?« Sie hatte die Türe aufgelassen. Offenbar war es ihr eigenes Zimmer, in das man hineinsah. Ein heller Toilettentisch mit Musselinvorhängen, ein Schaukelstuhl, Zigarettengeruch und jener staubige Fliederduft, der an Friseur erinnert. Martin hatte gar zu gern ein bißchen näher da hineingeguckt, aber die Audienz war sichtlich zu Ende. »Ich muß noch arbeiten,« sagte Hanna und ordnete die Hefte auf ihrem Tisch. »Zum Examen arbeiten.«
Unten verabredete man dann die Probe auf den Dreißigsten. »Wenn nichts dazwischen kommt.«
»Man muß seine nächste Pflicht tun,« sagte Frau Hummel, »ganz so als ob es nichts anderes gäbe. Unsere nächste Pflicht ist einfach, dem Onkel sein Fest schön zu machen.«
Helmut stimmte bei. »Lassen kann man ja immer noch alles.«
Als Martin von ihnen ging, war er sehr unzufrieden mit sich. Was hatte er sich zu befassen mit diesen unausstehlich tadellosen Menschen!
Am nächsten Morgen sehr früh gab man bei ihm im Auftrage von Frau Hauptmann Hummel eine große Papierrolle ab. Das abgemessene Material für sein Wandschirmgemälde. Er empfand es wie eine Vergewaltigung, setzte sich aber doch sogleich hin und begann zu entwerfen.
Gestern abend spät und noch tief in die Nacht hinein hatte er an seiner Rolle gelernt, bereit, sich über das Machwerk des »bas-bleu« zu mokieren. Aber er hatte wirkliche Poesie gefunden, und zwischen den Verszeilen lachte ein überlegenerHumor. Er hätte dem schweigsamen Mädchen das nicht zugetraut.
In Hemdsärmeln setzte er sich ans offene Fenster, machte sich mit Reißbrett und Geigenpult auf dem Tisch eine Staffelei zurecht und ließ sanfte, fruchtbeladene Wunderbäume entstehen, fromm werdende Tiere, und zwischen fabelhaften Sonnenblumen zwei Liebende, deren Kleidung aus Blumenkränzen und Grasmatten bestand. Stundenlang arbeitete er so im unaufgeräumten Zimmer, ging nicht ins Chemische Institut, wo heute Semesterschluß war, und hatte ganz vergessen, daß es ein Serbien gab, ein Österreich, ein Rußland. Erst als er auf der Straße war und ein Extrablatt ausrufen hörte, durchfuhr es ihn. Aber es stand keine Kriegserklärung darin, im Gegenteil, Beruhigung. England habe vermittelt, hieß es.
Martin ging über die Brücke zum Gutenbergplatz und an den Gewerbslauben entlang. Er wußte da ein Lädchen, dunkel und luftlos hinter seiner Holzgalerie, wo es allerhand Raritäten gab. Er meinte dort einen leichten, japanisch bedruckten Stoff gesehen zu haben, der gut für sein Kostüm passen konnte. Wirklich fand er auch das Gesuchte.
»Dix cinquante,« sagte die Verkäuferin, die ihm den Stoff einwickelte.
Er legte ihr das kleine Goldstück hin und den Fünfziger. Sie schob das Geld zurück.
»Sie geben mir zwei Mark zehn Pfennig zu viel, mein Herr.«
»Ah, Sie rechnen mit Francs?«
Sie lächelte. »Immer noch. Und hoffentlich – bald wieder. Nicht wahr?« Und sie blinzelte einverständlich.
Martin lächelte zerstreut zurück.
Draußen traf er auf einen Hümpel alter Männer, echte »Steckelburger« mit unternehmenden weißen Knebelbärten, dazu Bauern der Umgegend, die von ihrem petit verre aus einem Estaminet kamen. Ein krummes altes Männchen tat sich besonders hervor mit Fuchteln seines Spazierstocks und stolzem Umherblicken seiner dunkeln, immer noch feurigen Augen. »Im Krieg,« krähte er heiser, »im Krieg, do sinn mirElsässer allzitt voran g'si. Bei Wissembourg en Siebzig, do hab' i denne verdammte
Weitere Kostenlose Bücher