Die Verborgene Schrift
einem großen, schweren Fisch, der ihm an der Angel hing, die Schnur, hatte sich im Baum verwickelt, und er mußte hinaufklettern, um sie loszumachen. Er gab sich selbst zum besten, indem er auf sein rundes Lebemannsbäuchlein wies.
Man war jetzt an den kleinen Kirchhof gelangt, auf dem die aus der Maison Centrale Heraussterbenden begraben wurden. Er war ganz rot von Mohn und leuchtete fast unerträglich in der Sonne. Hortense erkundigte sich, ob da noch immer das »Heidengrab« geschmückt werde. Sie erklärte Hummel die Bewandtnis. Unter den Begrabenen befand sich ein Mohammedaner, sein Hügel war mit einem turbanartigen Stein besteckt. Jede Woche legte dort eine unbekannte Hand eine Rose nieder.
» C'est beauça !« sagte sie. »Daß ich das alles wiedersehe! Ich fürchtete schon zu sterben zuvor!« Sie weinte beinahe.
Dugirard versuchte ihre Erregung, die er als nicht » convenable « empfand, abzudämpfen. »Welches schöne Feuer! Welche Passion! Ich bewundere Sie, Madame! C'est du ›Gemüt‹ – vraiment ,« und flüsternd, damit Lucile es nicht höre, sagte er ihr ins Ohr: »Wahrhaftig, er ist nicht zu beklagen, mein Sohn Armand!«
Hortenses Gesicht veränderte sich, es nahm den konventionellen Ausdruck an, den Hummel zuerst an ihr gesehen hatte.
»Wollen wir nicht das Grab besehen?« schlug Victor Hugo vor, der sich Heinrich dienstbar zu erzeigen wünschte. Heinrich tat ihm den Gefallen, sich von ihm führen zu lassen. Der Wagen sollte langsam vorausfahren, sie würden schon nachkommen. Der Knabe steckte mit einer kleinen, kosenden Bewegung seinen Arm in den des großen Gefährten und sah ihn mit glänzenden Augen an. Sie traten an das Grab. Die Rose war da. Lauter Kreuze ohne Inschrift. »Ein Kirchhof der Namenlosen!« sagte Hummel. Victor Hugo war sich nicht ganz klar, ob das ein Lob oder einen Tadel zu bedeuten habe. »Es muß schrecklich sein, nicht wahr, keinen Namen zu haben?« – er sah ihm nach den Augen. »Aber ich, monsieur le géant , ich werde einmal einen Namen haben, o ja! Ich bin nur ein Kind, aber ich habe Mut! O, ich habe Mut! Und ich liebe Frankreich!«
Er machte sich los, blieb stehen und deklamierte mit großem Pathos den Vers seines berühmten Taufpaten:
»Gloire à notre France éternelle,
gloire à ceux qui sont morts pour elle,
aux martyrs, aux vaillatns, aux forts!
à ceux qu'enflamme leur exemple,
qui veulent place dans le temple
et qui mourront, comme ils sont mort!«
Er streckte den rechten Arm aus und hielt die linke Hand an der Brust. Sein Gesicht hatte einen drollig-theatralischen Ausdruck, der durch das schottische Kostüm noch verstärkt wurde.Heinrich lachte laut auf. Der junge Mensch blickte ihn betroffen an, dann stürzte er sich in Hummels Arme, umhalste ihn und bot ihm seine Wange. Heinrich war gerührt. Er nahm das blutjunge Gesicht mit den Feueraugen zwischen seine großen Hände und betrachtete es väterlich. Die Mütze war dem blonden Jungen vom Kopf gefallen, und sein ehrlicher, borstiger Schopf stand ihm wie eine Flamme über der Stirn. Er sah auf einmal seinem Urgroßvater, dem »tollen Hummel«, ähnlich.
Der Kleine wurde jetzt natürlicher. Auf Hummels Frage, ob er lieber Deutsch oder Französisch spreche, erzählte er, in seinem Lyzeum in Kolmar seien Strafen angesetzt für das Deutschsprechen auf der Straße. Da mache es natürlich erst recht Spaß. In Thurwiller aber, wo man bis vor ein paar Jahren in der Schule nur Deutsch unterrichtet hatte, hier wäre es feiner, Französisch zu reden.
»Na, mit mir sprich du nur Deutsch, kleiner Vetter!« sagte Hummel, worauf Victor Hugo sich nur fester an ihn drückte.
Im Muttergotteswäldle stiegen sie wieder ein. Es ging jetzt durch Wiesen, auf denen hohe Sternblumen blühten. Dugirard plauderte vergnüglich. »Ich liebe das Landleben,« sagte er, »und später – seien Sie sicher – wenn man einmal eine hübsche Rente beiseite gelegt hat, dann kaufe ich mir hier im Elsaß für Madame Dugirard und mich ein kleines weißes Häuschen, nahe am Wasser, dort angle ich und pflege meine Rosen.«
Lucile sah ihn mit großen Engelsaugen an.
»Und ich, Papa, wo bleibe ich?«
»O, bis dahin« – Dugirard räusperte sich – »habe nur keine Furcht, Kleine! Man wird dann schon für dich gesorgt haben.«
»O nein, Papa, ich habe keine Furcht! Ich werde stets zufrieden sein mit dem Manne, den meine Eltern mir aussuchen werden!«
Es war, als wenn ein Greuze Stimme bekommen hätte, so glashell-deutlich naiv klang
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